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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Dein Hirn hat lauter blaue Flecke.«
    »Und du?« Wir fuhren wieder. »Dich höre ich nie nach einem Namen suchen.«
    »Bei mir sind andere Bereiche angegriffen. Denk an das,was wir gerade machen. Ich traue mich nur noch zum Ziegenhof, so eine Angst habe ich, Bekannte zu treffen.«
    Wir fuhren in den Bos. Lichtflecken jagten durchs Auto.
    »Scham?« fragte Mirjam nach einiger Zeit.
    »Ich schäme mich, ja, weil ich meinen Sohn verloren habe. Ich schäme mich vor dir und der ganzen Welt, weil ich seinen Tod nicht verhindern konnte. Ich habe versagt. Ich schäme mich für meine Niederlage.«
    Im Laufe von rund zwanzig Jahren hatte mein Bemühen, Tonio unversehrt durchs Leben zu führen, regelmäßig Schiffbruch in Form von Zweifeln und Fehlschlägen erlitten. Aber auch die waren immer wieder überwunden worden.
    Dennoch hatten wir ihn mit jedem Jahr ein Stück mehr der Welt überlassen müssen. Allein zur Schule gehen, übernachten bei anderen, zelten mit befreundeten Elternpaaren … die weiten Klassenreisen, zum erstenmal allein mit der Straßenbahn fahren, mit Kumpels in die Hausbesetzerkneipe Vrankrijk … der gelegentliche Zug an einer Haschzigarette bei der Gruppe, die auf dem Museumplein rumhing … an die Fotoakademie nach dem Abitur … das Popfestival in Budapest … der Umzug in den Stadtteil De Baarsjes … der Nachturlaub auf Ibiza …
    Und dann, in der Nacht zum Pfingstsonntag, Paradiso an der Weteringschans.
    Wieviel Recht hatte ich noch auf meinen Stolz, den Jungen so gut vorbereitet und ordentlich ausgebildet der Welt überantwortet zu haben? Bedeutete sein Unfall nicht, daß ich als beschützender Vater grundlegend versagt hatte, nicht nur ganz zum Schluß, sondern auch im nachhinein?
    Mirjam versuchte mich zu beruhigen, war aber nicht in der Lage, mir das überwältigende Gefühl von Schuld, Scham und Niederlage zu nehmen.
29
     
    Ein herabgesetztes Bewußtsein, darunter leidet nicht nur Mirjam seit dem Unglück. Wenn meine Gedanken sich zu trüben beginnen, ertappe ich mich dabei, daß ich nur noch sehr negativ an Tonios imaginär gewordene Zukunft denken kann. Rauchen, Trinken, das wird alles immer maßloser werden. Schlechte Studienergebnisse und letzten Endes kein Abschluß. Probleme mit Frauen. Einsamkeit. Jemand, der nicht selbst für sich sorgen kann. Krankheiten. Frühes Altern. Vergeßlichkeit. Ein häßlicher Tod.
    Nur ein verwirrtes Gehirn kann sich um eine Zukunft sorgen, die nie stattfinden wird. Doch warum dann noch solche schwarzen Erwartungen? Wenn ich unbedingt Tagträumen über eine unmögliche Zukunft nachhängen will, warum statte ich Tonio dann nicht mit schönen, triumphalen Erlebnissen und Errungenschaften aus?
    Ich stelle ihn mir vor am Tag vor Pfingsten. Samstag, der zweiundzwanzigste Mai 2010. Er ist verliebt oder kurz davor, sich zu verlieben. Alte Fehler wird er nicht mehr begehen. Er steht vor dem Spiegel, sieht sich selbst in die Augen und flüstert den Slogan, den er so oft auf T-Shirts, Plakaten und Badehandtüchern gelesen hat:
     
    tomorrow is the first day of the rest of your life
     
    Seine Zukunft sollte am nächsten Tag anfangen. Er begann »den Rest seines Lebens« verdammt schlecht, mit einer derart selbstzerstörerischen Tat, daß sie sogar meine Vorstellung von seiner unmöglich gewordenen Zukunft schwarz färbt.
    Die Auswirkungen einer Menge Dinge auf sein späteres Leben werde ich nicht kennen. Sogar von den weniger schönen Aspekten meines Charakters würde ich im nachhinein wissen wollen, wie sie ihn beeinflußt haben. Auch das Wissen um seine eventuelle Aversion gegen mich wegen von mirlängst vergessener Ereignisse wäre mir jetzt heilig, denn dann hätte er zumindest eine Zukunft gehabt.
30
     
    Als wir vom Parkplatz zum Ziegenhof gehen, kommt uns auf einem schmalen Waldweg die Freundin eines Kollegen entgegen. Sie erschrickt sichtlich, als sie uns erkennt. Einen Gruß stammelnd, geht sie an uns vorbei, hilflos. Viel zu spät wird mir bewußt, daß ich ihr hätte nachgehen müssen – um ihr zu sagen, es sei sehr verständlich, daß sie nichts von sich habe hören lassen, weil es ja auch keine Worte dafür gebe, und daß die Scham ganz bei mir liege.
    »Das genau meine ich«, sage ich zu Mirjam.
    Das frühsommerliche Wetter, das ein paar Tage vor Tonios Tod einsetzte, verfolgt uns mit einem »was hätte sein können«. Im Schatten des Waldes ist es noch morgendlich kühl. Schatten, Lichtbahnen … Tonio ist überall. Der Verlust hat sich in allem

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