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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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zwanghafte Notieren alltäglicher Fakten, die mit Tonios Tod, Beerdigung und deren Nachwirkungen zu tun haben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß kein Detail verlorengehen darf.
    Draußen wütet der lodernde frühsommerliche Tag, und ich sitze hier drinnen, im dritten Stock, und führe Buch über alles, was nach Tonios Verschwinden mörderisch normal weitergeht. Kurz nach Mittag bringt Mirjam die hundert nachbestellten Porträts von Tonio als Oscar Wilde und die kartonierten Umschläge.
    »Schau, das hat Marloes gemailt …«
    Eine Liste mit Adressen von Tonios Studienkollegen. Marloes war eine Freundin und Vertraute von ihm. Ich räume meine Tagebuchaufzeichnungen beiseite, um den Studenten des Studiengangs Medien & Kultur ein Exemplar unseres Standardbriefs zu schicken, dazu, handschriftlich, ein paar persönliche Zeilen und das beigelegte Porträt. Die Fotos habe ich mit der Abbildung nach unten auf den Schreibtisch gelegt, damit ich Tonio nicht ständig ins Gesicht blicken muß.
    Und dann, während ich diese Blätter wieder zur Hand nehme und zu ordnen beginne, sehe ich auf einmal Tonio, fast zwei Jahre alt, in der Frühlingssonne stehen. Mein Vater und meine Mutter haben uns besucht und einen zweiteiligen Anzug für ihn dagelassen: hellgrau, glänzend, teilweise aus Seide. Das Oberteil hat eine Zierkapuze.
    Die Papiere fest umklammernd, erstarre ich. Er trägt die neuen Sachen zum erstenmal. Mirjam hat sie ihm gerade angezogen und, ihn mit Küssen bedeckend, ausgerufen, sie stünden ihm so gut. »Ein kleiner Prinz in Seide.«
    Reglos an meinem Schreibtisch sitzend, als könne das Bildbei der geringsten Bewegung verschwinden, sehe ich zu, wie der kleine Junge mit verhaltenen Schritten die Schattenseite des Loenener Hofs überquert – bis er im sonnenbeschienenen Teil stehenbleibt. Er fühlt sich nicht ganz wohl in dem neuen Material, ist sich aber gleichzeitig, durch Mirjams Komplimente, der Bedeutung seiner Erscheinung bewußt. Nicht frei von Effekthascherei sucht er das Sonnenlicht, das sogleich in seinen blonden Ringellocken zu wühlen beginnt.
    In dem Moment taucht Frau Roldanus zwischen den Sträuchern ihres Gartens auf, auf dem Weg zur Garage. Tonio geht ein paar Schritte auf sie zu, während seine Hände den Bauch abtasten.
    »Schau«, sagt er mit diesem hohen, dünnen Stimmchen. »Schau.«
    Er zeigt der Frau etwas, das an einer Schnur um seine Taille hängt. Es ist ein kleines Herz aus silbrig-hellgrauer Seide, möglicherweise ein winziger Geldbeutel oder nur zum Schmuck angebracht. »Schau-au«, sagt er singend.
    »Oh, Tonio.« Die Frau geht vor ihm in die Hocke. »Wie schön.«
    Sie wirkt gerührt, wie auch sonst, aber das Weib ist, wie sich ein paar Wochen später herausstellen wird, an der Störung unserer Idylle in der Veluwe mitschuldig. Als selbsternannte Innenarchitektin hat sie die Zeichnungen für den heimlichen Umbau des Kutschenhauses, auf unserem Hof gelegen, natürlich längst gesehen. Ihr Sühneopfer bestand aus selbstklebenden Vögeln, mit denen sie die Fenster und die zum Garten führenden Türen unseres Hauses sowie, nicht zu vergessen, den gläsernen Windfang beklebte, damit kein Spatz an unsere Scheiben knallte.
    Es scheint, als zöge das seidene Herz, mehr noch als Tonios goldener Lockenkopf, das gesamte Sonnenlicht in diesem Moment auf sich. Das Bild war schon seit Jahren aus meinem Gedächtnis verschwunden. Es auf einmal wiederzufinden – ich weiß nicht, ob ich darüber froh oder unglücklich sein soll. Es spielt keine Rolle. Der Schmerz ist in beiden Fällen gleich tief.
33
     
    Wäre Tonios Tod nur ein Problem gewesen, mit dem wir uns nach seinem abrupten Verschwinden hätten befassen können, um eine Lösung zu finden …
    Es gab keine Lösung dafür, also war sein Tod vielleicht ja gar kein Problem, strenggenommen.
    Damit wir nicht zugrunde gingen, suchten wir uns nach dem ersten lähmenden Entsetzen ein Parallelproblem, das sich möglicherweise würde lösen lassen. Es war ein zeitloses Problem: Starb ein teurer Mensch, so wollten die Zurückgebliebenen ganz genau wissen, was passiert war, als könnte dieses Wissen sie dem Verstorbenen näherbringen. Je mysteriöser oder gewaltsamer die Umstände, die zum Tod eines geliebten Menschen geführt hatten, um so größer schien das Bedürfnis nach Details zu sein.
    Auch ohne irgendeinen Hinweis auf Gewalt konnte dieses Bedürfnis bei uns nicht größer sein.
34
     
    Wir sitzen auf der Veranda und versuchen, das erste Glas des

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