Tonio
Abends noch etwas hinauszuzögern. Eine tiefschwarze Düsterkeit versiegelt mir den Mund. Ich schlage vor, uns um Gottes willen dann eben drinnen die Acht-Uhr-Nachrichten anzuschauen. Vielleicht gibt es etwas Neues über Joran van der Sloot in Peru – als ob mich das interessieren würde. Wir haben zu spät eingeschaltet. Bekommen aber trotzdem noch etwas von der großen Sorge um die Oberschenkelzerrung bei einem der niederländischen Spitzenfußballer mit. Ein Bericht über die bevorstehenden Wahlen will schon gar nicht zu mir durchdringen.
Wir hätten natürlich draußen sitzenbleiben sollen, auf der windgeschützten Terrasse. Mirjam will sich eine Folge von Cold Case ansehen.
»Minchen, ich werde mir nicht für den Rest meines Lebens mit dir zusammen diese blödsinnigen amerikanischen Serien ansehen.«
Sie fängt leise zu weinen an. »Halb betäubt vor der Glotze hocken, damit man nicht nachdenken muß, mehr verlange ich doch nicht.«
Der Fernseher wird ausgeschaltet. Nach einigen weiteren Gereiztheiten meinerseits sitzen wir im langsam dämmrig werdenden Wohnzimmer und reden versöhnlich und schamlos traurig miteinander. Mirjam weint mehr als an früheren Abenden.
»So schrecklich … so schrecklich , daß ich ihn nie mehr sehen werde.« Was sie sagt, rauscht fast tonlos mit ihrem Atem mit. »Daß ich ihn nie mehr werde umarmen können. All diese ganz gewöhnlichen Dinge … weg, weg, weg. Seine schmutzige Wäsche abholen, und daß er dann gerade aus dem Bett kam … nach diesem herrlichen Jungensschweiß roch … Er fehlt mir so.«
Beschwörend versprechen wir uns in einem fort, unser Leben wieder aufzunehmen und fortzusetzen: zu arbeiten und zu versuchen, gesund zu bleiben, weil der Junge das so gewollt hätte. Alles wird von nun an im Zeichen Tonios stehen, damit wir ihn nicht vergessen.
»Wir hören auch wieder auf mit dem Trinken«, sagt Mirjam. »Es schmeckt noch nicht mal, weißt du das?«
Mir schmeckt es an diesem Abend genausowenig, aber das hindert mich nicht daran, kräftig zuzulangen. Ich fühle mich mit jedem Glas klarer. Nachdem Mirjam nach oben gegangen ist, bleibe ich noch lange reglos auf der Couch sitzen, brütend, in das schwarze Loch starrend, das einmal Tonio war.
35
Manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich niedergeschlagen an ein großes Unglück denke, das Menschen aus meinem Umfeld zugestoßen ist. Sie stehen mir sehr nahe. In Gedanken tröste ich sie, doch die Katastrophe ist zu unwiderruflich, als daß ich ihnen wirklich helfen könnte. Ich schenke ihnen meine Tränen der Ohnmacht, mehr ist nicht möglich.
Und dann, während ich aus dem Tagtraum auffahre, wird mir bewußt, daß wir es sind, Mirjam und ich, denen das Unwiderrufliche widerfahren ist.
Ich erzähle es Mirjam.
»Vielleicht ein kleiner Umweg des Gefühls«, sagt sie, »damit du dir ein bißchen Mitleid mit dir selbst erlauben kannst.«
KAPITEL III
Gongstäbe
1
Nachdem Tonio in den Stadtteil De Baarsjes umgezogen war, dachte ich manchmal tagelang nicht an ihn. Jedenfalls nicht explizit – auf einer niedrigeren Bewußtseinsstufe trieb er sich natürlich immer irgendwo herum. Er führte sein Leben außerhalb meines Blickfelds.
Seit seinem Tod ist er keinen Moment aus meinen Gedanken verschwunden. Sogar wenn von Denken anscheinend kaum die Rede sein kann, spüre ich die Anwesenheit, die Schwere, den Ernst seines Sterbens.
Mit einem sophistischen Trick könnte ich also behaupten, daß er tot für mich wichtiger ist als lebendig.
Ausgeschlossen. Nur … tot lastet er mehr auf mir als lebendig. Als Junge, in action , hatte er die Möglichkeiten, sich meiner Aufmerksamkeit für kürzere oder längere Zeit zu entziehen. Der gestorbene Tonio ruht unausweichlich schwer und reglos in der wimmernden Hängematte meiner Aufmerksamkeit.
Wenn Tonio, meist unangekündigt, sein Elternhaus aufsuchte, öffnete er geräuschlos die Eingangstür mit seinem Schlüssel. Er nahm die Treppe in den ersten Stock, ohne daß eine Stufe knarrte, was ihm der dicke Läufer und sein federnder Schritt erleichterten. Die Wohnzimmertür, die nicht richtig schloß, brauchte er nur mit der Fingerspitze aufzudrücken.
Da stand er dann unerwartet mitten im Zimmer. Sein breites Lächeln verriet, daß er uns hatte überraschen wollen. Daß er seine Eltern in einer intimen Situation überfallen könnte, kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Wir saßen dann meistens mit einem Glas auf der Couch. Er war nach wie vor das Kind, das
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