Tonio
Sichtbaren eingenistet. Alles ist beseelt mit unserem Verlust.
Auf dem Ziegenhof ist es noch ruhig. Die Kinder sind in der Schule. Mirjam bestellt drinnen Brötchen. Als sie wieder zurück ist, kippe ich die Plastiktüte mit der Kondolenzpost auf den Tisch. Mit einem Frühstücksmesser öffne ich einen Umschlag nach dem anderen. Ich lese den Brief oder die Karte und gebe sie dann an Mirjam weiter. Mir fällt auf, daß ihre Augen immer flüchtiger über die Worte wandern und sie das Blatt dann wieder zusammenfaltet. Ihr Gesichtsausdruck behält denselben teilnahmslosen Ausdruck und scheint auf das Geschriebene oder auf den Absender nicht zu reagieren. Nach ich weiß nicht wie vielen Postsendungen schiebt sie den Stapel von sich.
»Lies du weiter. Ich kann nicht mehr.«
Es ist wirklich zu lächerlich: Ehepaar, in der göttlichen Frühlingssonne Kondolenzbriefe für ihren gerade verstorbenen Sohn lesend. Hier, im Geruch von Ziegenmist, wo der Junge als Kind mit seiner tropfenden Eistüte herumgetollt war. Ich fege die Post in die Tüte. Als ich aufschaue, schimmert Mirjams Gesicht in der Sonne – von Schleim und Tränen.
Ich rufe meinen Schwiegervater an. Er schaut sich im Halbdunkel seiner Parterrewohnung möglichst oft Tennis auf einem speziellen Sportsender an. »Ich lasse mich soviel wie möglich von diesem kleinen Ball ablenken«, sagt er. »Und ansonsten habe ich alle Zeit, um mit mir selbst zu reden – über Tonio.«
31
Auf der Terrasse des Ziegenhofs macht Mirjam mich auf zwei Ehepaare mit Kindern aufmerksam. Der eine Mann führt dem anderen ein iPad-artiges Gerät vor.
»Gräßlich«, sagt sie, »diese Kerle mit ihren Spielzeugen. Keinerlei Unterhaltung mit ihren Frauen, aber sich gegenseitig mit dem neuesten Schnickschnack überbieten wollen. Warum nicht gleich eine Runde Weitpinkeln, da am Graben?«
Auch wir reden heute nicht viel, aber das liegt daran, daß wir beide an unseren Jungen denken, der nicht einmal zweiundzwanzig werden durfte – und das ist auch eine Art von Gespräch. Auf der Wippe des kleinen Spielplatzes steht am einen Ende eine Ziege, am anderen sitzt ein ungefähr sechsjähriger Junge. Das Tier läßt sich ohne Angst in die Höhe befördern und wieder hinunter.
»Es macht einen fertig«, sagt Mirjam auf einmal, »daß das Elend jeden Tag eine andere Gestalt annimmt. Gestern dachte ich voller Schrecken an unsere Zukunft, deine und meine … wie das alles weitergehen soll … Heute finde ich es vor allem so schrecklich für Tonio, daß er sein Leben nicht zu Ende leben durfte. Morgen …«
»Und so himmelschreiend ungerecht«, sage ich, »daß er zu Lebzeiten nichts von diesem frühen Ende gewußt hat.«
»Na ja … vielleicht zum Glück.«
»Ich weiß nicht, Minchen. Ja und nein. Wenn er es hätte kommen sehen, wäre er in diesen letzten Tagen bestimmt nicht so glücklich gewesen. Andererseits … Jemand wie Kellendonk wußte, daß er früh sterben würde. Er hat seine Vorkehrungen getroffen. Wenn er mehr Zeit zum Leben und Arbeiten gehabt hätte, dann hätte er, denke ich, nicht seine gesamte Vorstellungswelt so geballt in diesem einen Buch zusammengefaßt.«
Jetzt steht an beiden Enden der Wippe eine Ziege. Die beiden Tiere haben anscheinend das annähernd gleiche Gewicht, denn das Ding bleibt, einmal losgelassen, in der Schwebe – bis eine der Ziegen herunterspringt und das andere Ende der Wippe auf den halb eingegrabenen Autoreifen schlägt.
»Du hast in den letzten Tagen oft von Scham gesprochen«, sagt Mirjam. »Daß du dich dafür schämst, was Tonio zugestoßen ist, und so. Also, wenn Tonio schon zu Lebzeiten gewußt hätte, daß er jung sterben würde, zum Beispiel durch Krankheit … ich glaube nicht, daß ich meine Scham hätte überwinden können. Ich hätte jedes Wort, jeden Blick von ihm als Vorwurf gedeutet. Auch wenn er es nicht so gemeint hätte.«
32
Während Mirjam sich um die Fotos kümmert, rekonstruiere ich die seit dem dreiundzwanzigsten Mai verstrichenen Tage möglichst detailliert im Telegrammstil. Ich bin erschrocken über die »Gedächtniserschütterung«, die Mirjam durch Tonios Tod erlitten hat. Ich meine mich an alles im Zusammenhang mit dem Unglück noch haargenau zu erinnern, kann aber nicht dafür garantieren, daß es so bleibt. Heuteoder morgen sehe ich hinter geschlossenen Augen, wie meine eigenen Erinnerungen abbröckeln und sich in schwarze Löcher auflösen. Mirjam wird mir dann keine Stütze sein können.
Warum dieses
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