Tonio
Frage, während er seine ganze Aufmerksamkeit dafür benötigt, mit seinen weichen Fingernägeln zwei Legosteine zu trennen. Seine Gesichtsmuskeln zittern vor Anstrengung. Weil er die Zähne zusammenbeißt und die Unterlippe vorschiebt, springt sein Schnuller heraus, bleibt aber an der Plastikkette vor seiner Brust hängen. Was habe ich gesagt, um sein »Warum« hervorzulocken?
»Du mußt dir von Mama die Fingernägel schneiden lassen.«
»Oh, warum … warum denn?«
Weil du sie dir sonst an den Legos einreißt – aber das sage ich nicht, schier wahnsinnig von all den Erklärungen, zu denen er mich den ganzen Tag lang zwingt. Tonio bekommt die Steine auseinander und versucht, mit seinen Milchzähnen einen beschädigten Nagel zu begradigen. Er spuckt ein Stückchen aus, einen weißen Splitter, und wiederholt erst dann: »Warum?«
Zwischen den beiden letzten Warums sind etliche leere Augenblicke verstrichen. Hier mache ich einen leicht verkürzenden Knoten in seine Lebenslinie. Zwei, drei Sekunden, und das ist noch großzügig bemessen. Tonio hat nichts gemerkt: Ich habe nur mein eigenes Schweigen, das ebenso lange dauerte wie seines, um ein paar Sekunden gekürzt.
»Sieh dir nur deinen eingerissenen Nagel an«, sage ich, »dann weißt du, warum.«
Einige Sekunden früher, als die reale Zeit es gebietet, rennt er ins Badezimmer, um den Nagelknipser aus der kleinen Schublade zu holen, an die er gerade eben herankommt,und ihn dann zu seiner Mutter in die Küche zu bringen. Fortan wird alles in seinem Leben eine unmerkliche Zeitspanne früher geschehen.
Vielleicht kommt, wenn er die mittleren Lebensjahre längst hinter sich hat, der Betrug heraus. Ich lebe dann vielleicht noch als hochbetagter Großvater von Tonios Kindern. Dank des fortgeschrittenen Stands der Wissenschaft können die amputierten Momente seines Lebens möglicherweise nachträglich wieder angefügt werden, so wie gelegentlich, nach Messungen einer Atomuhr in einem Flugzeug hoch über der Erde, eine Sekunde zur regulären Menschenzeit dazugezählt werden muß, weil sonst der Kalender nicht mehr stimmt.
Gut, sollen meine illegalen Zeitbeeinflussungsaktivitäten eben ans Licht kommen – Tonios Leben werden sie gerettet haben.
5
So suchte ich in meinen Erinnerungen an Tonio nach Situationen, die konkret genug waren, um mich in Raum und Zeit an die Orte zurückversetzt zu glauben, an denen sie sich abgespielt hatten. Mal entfernte ich ein paar Sekunden aus dem Zeitablauf, mal fügte ich drei, vier ein. Es war ein Spiel – zwanghaft, aber es blieb ein Spiel. Letztendlich brachte es mir nichts, außer daß die Neurose ihren Griff verstärkte. Ich tat besser daran, zu dem zurückzukehren, was an jenem frühen Pfingstsonntagmorgen wirklich passiert war, ohne daß die Fakten sich darum geschert hätten, was ich in Tonios Lebenslauf herausgeschnitten oder darangeklebt hatte.
6
Bevor Tonio verunglückte, hatte ich mich immer über Menschen gewundert, die das Schicksal endlos weiterbefragten. Anstatt sich in das Unwiderrufliche zu fügen, wurden sie inmeinen Augen zu quengelnden Kindern, die stets von neuem die Fragen stellten, die längst beantwortet waren. Oder nicht beantwortet werden konnten . »Wie um Himmels willen konnte das passieren?«
»Um Himmels willen, warum? Warum? Warum?«
»Erzähl noch mal, was der dritte Zeuge gesagt hat.«
»Wenn er zuerst … und nicht sofort … dann …«
Jetzt wußte ich es besser. Alles wollte ich über den Unfall wissen. Und nicht nur das. Ich wollte auch alles über seine letzten Tage und Stunden in Erfahrung bringen – alles, seit ich ihn zuletzt gesehen und gesprochen hatte.
Schlechten Nachrichten konnte man nicht entrinnen. Ich aber war stets vor den Details der schlechten Nachricht davongelaufen. Ich wollte sie nicht hören. Wenn jemand mir die Freundschaft kündigte, schlimm genug, doch der Brief mit der zu erwartenden Aufzählung der Gründe blieb geschlossen.
Jetzt lechzte ich in verzweifelter Gier nach jedem Detail, das Tonio widerfahren war, seit er das elterliche Haus am Donnerstagnachmittag verlassen hatte und drei Tage später … das Leben. Der einzige, den wir dazu bisher befragt hatten, war Jim, doch er war in jener Sonntagnacht nicht dabeigewesen. Ja, Jim zufolge hatte Tonio von einem Mädchen gesprochen. Er sollte mit ihr ein Fotoshooting machen, doch Genaueres wußte Jim auch nicht. Er kannte sie nicht, nicht einmal ihren Namen. Tonio sei an jenem Samstagabend ausgegangen, das war
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