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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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ersten Herbstferien verschwunden und auf der Geldroper Hauptschule untergekommen waren, so daß ich jetzt doch allein dastand.
    Gleich in der ersten Schulwoche war es soweit – zumindest beinahe. Ich fuhr, wie gewohnt, hinter Wil und Hans her und fiel zurück. Sie hatten, auf den Pedalen stehend, die gefährliche Abbiegung gerade hinter sich. Beim Versuch, sie einzuholen, blickte ich nicht über die Schulter.
    Bevor ich die Reifen kreischen hörte, spürte ich den Luftsog des Autos. Es berührte mich, wenn auch nurleicht. Es war ein offener Sportwagen, der mich beinahe überfahren hätte. Er hielt an. Der Fahrer richtete sich hinter dem Steuer ein Stück auf und drehte sich um. Da stand ich, das Fahrrad zwischen den Beinen, bebend. Es war nicht das erste Mal, daß heftiger Schreck mein Wahrnehmungsvermögen verstärkte: Auch heute noch brauche ich die Augen nur kurz zu schließen, um den etwa fünfundzwanzigjährigen Mann vor mir zu sehen. Er trug hellbraune Lederhandschuhe und eine Sonnenbrille mit grünen Gläsern.
    »He, du, bist du lebensmüde oder was?«
    Es klang großspurig, aber nicht unsympathisch.
    »Nein«, rief ich einfältig, vielleicht leicht weinerlich zurück, als hätte ich die Pflicht zu antworten. »Überhaupt nicht.«
    Der Mann ließ sich wieder auf den Sitz fallen. Ohne sich umzusehen, hob er grüßend den Arm. Vom Asphalt stieg der scharfe Geruch von verbranntem Gummi auf. Die Bremsspuren waren nur kurz: bissige Striemen. Ich wartete, bis der Verkehr vorbei war, und ging dann, das Rad an der Hand, hinüber, schlotternd, auf gelenklosen Beinen wankend. Drüben bekam ich den Hohn meiner Freunde ab. Als ich weiterfuhr, jetzt dichter hinter ihnen, bemerkte ich, daß das Vorderrad meines neuen Gefährts eierte. Der Fahrer des Sportwagens war nicht mal ausgestiegen, um zu schauen, ob womöglich ein Kratzer im Lack war.
    Nein, ich werfe Tonio nicht von morgens bis abends Unachtsamkeit vor. Ich quäle mich aber mit Fragen wie: Warum war mir damals, 1964, die halbe Sekunde Spielraum vergönnt, die Tonio rund fünfundvierzig Jahre später fehlte? Ohne diesen Spielraum wären meine Eltern in Trauer gestürzt worden, und es hätte nie einen Tonio gegeben, keinen lebenden und keinen toten.
    Durch das, was Mirjam und mir widerfahren ist, kann ich mir meine Eltern fast hautnah vorstellen, wie sie um mich getrauert hätten. Ich höre ihre Stimmen.
    »Ein Junge von noch nicht mal dreizehn Jahren. Er ging erst seit kurzem in seine neue Schule. Ewig schade.«
    »Ein Sportwagen. Viel zu schnell natürlich. So ein Reicheleuteschwein … Keine Karte, keine Blume, nix.«
    Meine Mutter hätte ihr Rechthaben nicht sehr genießen können: daß ich mich besser fürs Augustinianum entschieden hätte. Eher hätte sie alle Schulen verflucht. Institute, an denen man Wissen nur unter Gefahr für junge Leben erwerben konnte.
    Ich tue mir noch einmal den Wahnsinn an, über diese halbe Sekunde nachzubrüten. Die aus Ratlosigkeit hervorgegangene Frage nimmt groteske Formen an. Zum Beispiel: Warum hat sich meine halbe Sekunde Glück nicht so fest in den Genen verankert, daß Tonio ein knappes halbes Jahrhundert später davon hätte profitieren können?
4
     
    Züge einer Zwangsneurose treten deutlich hervor. In einem fort gehe ich Tonios Leben durch auf der Suche nach leeren Momenten, die möglicherweise, ohne sein Dasein völlig umzukrempeln, zu verlängern oder zu verkürzen gewesen wären, damit viele Jahre später, am Pfingstsonntag 2010, Tonios Fahrrad und das unbekannte Auto haarscharf aneinander vorbei geschossen wären.
    Ich finde unzählige solcher Augenblicke, doch die bloße Erinnerung daran ist nicht genug. Es gehört der Eindruck einer Zeitmaschine dazu: Ich muß die visionäre Empfindung haben, wirklich in irgendeine Episode von Tonios Vergangenheit zurückversetzt zu sein. Ich verschlüssele eine solche superkurze Zeitspanne (von höchstens zwei Sekunden) derart diskret und vorsichtig, daß sich an seinem Lebenslauf dem Anschein nach nichts verändert. Sein bereits bekanntes, späteres Dasein wird dadurch nicht durcheinandergebracht oder angetastet.
    Ich befinde mich wieder in der Zeit des ständigen »Warum?« Das fließt allmählich so automatisch aus Tonios Kindermund, ob es paßt oder nicht, daß es einen blasiert fragenden Ton bekommt. »Oh, warum … warum ist das so? Warum?«
    Falls es Neugierde ist, dann ist sie nicht drängend genug, deswegen das Spiel zu unterbrechen. »Warum, Adri, warum?« Er stellt die

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