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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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unserem Haus.«
    »Ich habe mich auch davor gegrault«, sagt Mirjam. »Ich bin erleichtert, daß sie abgesagt hat.«
    Sie verspricht, vom Japaner Sushi mitzubringen, Häppchen zu einem kalten Glas. Ich ahne, daß es, was das Essen anbelangt, dabei bleiben wird. »Bis gleich.«
     
    An jenem Freitagabend, auf der Veranda, fragten wir uns, was das alles nun gebracht hatte – die Gespräche mit Tonios Freunden, unser Herumstöbern, das ganze verzweifelte Suchen und Kombinieren.
    In erster Linie Ablenkung von dem wirklich unlösbaren Problem. Und ja, wir wußten jetzt, daß er seinen letzten Abend und seine letzte Nacht in Gesellschaft von Dennis und Goscha verbracht hatte und nicht zusammen mit Jenny. Und daß er nicht aus dem Paradiso kam, sondern aus dem Club Trouw in der Wibautstraat und daß er sich danach allein mit dem Fahrrad auf den Weg zu seiner Wohnung in De Baarsjes gemacht hatte.
    Warum aus der Verabredung mit Jenny nichts geworden war: unklar. Was Tonio zur Kreuzung Hobbemastraat/Ecke Stadhouderskade geführt hatte: Niemand hatte auch nur eine Ahnung. Ebenso ließ die Polizei noch vieles offen, was den genauen Hergang des Unfalls betraf.
    Gut, wir hatten nach viel Sucherei die Ergebnisse des Fotoshootings aufgespürt, doch Jenny hatte sie nicht abgeholt. Jim und Dennis wollten eine kleine Ausstellung mit Tonios anderen Fotos einrichten, ließen aber nichts mehr von sich hören. Das abweisende Verhalten Jims gegenüber der Mutter seines verunglückten Freundes hatte uns noch tiefer ins Elend gestürzt.
    Wir hatten Tonio in der wehrlosesten Position eines Verstorbenen bis zum äußersten verteidigen und beschützen wollen, hatten aber nicht mit dem lakonischen, alltäglichenVerrat der Lebenden gerechnet. Und falls das bitter klingt – es ist bitter.
    Die kartonierten Umschläge mit Tonios Aufnahmen von Jenny lagen zwischen uns. Sein letzter Auftrag auf Erden. Keiner von uns hatte den Mut, die Fotos zu betrachten, weil wir genauso gut wie Jenny wußten, daß auf jedem Abzug, auffällig unsichtbar, Tonio zugegen war. Sein spähender, abtastender Blick, durch das Hochglanzpapier hindurch. Was in den Umschlägen steckte, war eine Sammlung Momentaufnahmen von Tonios Netzhaut am Donnerstag, dem 20. Mai 2010 – einer Netzhaut, auf der es vor Jennys nur so wimmelte.
    »Da sitzen wir jetzt«, sagte Mirjam. »Fotos aufgespürt, Model abgeschwirrt.«
    »Wir zwei!«, sagte ich. »Zuviel Schiß, ein paar Fotos auszupacken. Und Jenny, was meinst du? Sie könnte sich keinen Abzug ansehen, ohne Tonios zusammengekniffenes Auge dazugeliefert zu bekommen … seinen Scheitel, wenn er sich über die Hasselblad beugte … Nein, sie hat sich dem nicht gewachsen gefühlt. Ich finde es eigentlich rührend, daß sie sich jetzt auf das gleiche gesundheitliche Problem beruft wie am Tag des Fotoshootings. Vielleicht hatte sie auch damals schon eine gewaltige Schwellenangst.«
    »Dann wird sie wohl in drei Wochen genausowenig kommen.«
    »Wir warten ab. Wenn es zu lange dauert, nehmen wir selbst Kontakt auf. Wir haben ein Recht darauf, ihre Seite der Sache zu hören.«
38
     
    Seit dem Schwarzen Pfingstsonntag habe ich mich, noch viel mehr als früher, heiser geschimpft über die Banalität dessen, was Meinungsmacher mit low culture bezeichnen und in deren Erzeugnissen ich nichts entdecken kann, was meine gegenwärtige Situation auch nur ansatzweise widerspiegelt oder erhellt.
    Ich habe mich getäuscht. Mirjams vor einiger Zeit geäußerte Ermunterung, mein Elend herauszuschreien, hat offenbar etwas in mir gelöst. Heute morgen kam im Radio das alte Lied My son, my son von Vera Lynn. Meine Mutter sang es früher gelegentlich, die englischen Worte vorsichtig ertastend. Es beginnt mit einem ziemlich altbacken klingenden kleinen Männerchor, aber dann ist auf einmal die Stimme von Vera Lynn da mit diesem anschwellenden Schluchzer.
    Der Song traf mich wie ein Hieb in den Magen und erlöste mich von einem Krampf irgendwo zwischen Kopf und Herz. Mirjam hatte mich zwei Wochen zuvor zu einem trockenen Schrei verleitet, doch jetzt brach unter heftigem Schluchzen alle Nässe aus mir heraus, bis hin zu unaufhaltsam laufendem farblosen Rotz.
    Es fühlte sich befreiend an, aber es befreite mich nicht. Das Lied ist nur kurz. Als es zu Ende war, kam die Katharsis nicht über ein feucht geflüstertes »So ist es … so ist es« hinaus.
     
My son, my son
You‘re everything to me
My son, my son
You‘re all I hoped you‘d be
My son, my son
My only

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