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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Einen Gin Tonic, ja. Einen ordentlichen.«
    Noch bevor der erste Schluck alles leichter macht, rutscht eine Last von uns. Mirjam geht weinend in die Küche, allerdings nicht gerade widerstrebend. Ich höre sie mit Gläsern, Flaschen, Kühlschrankschubladen hantieren. Eisbehälter knacken. Würfel klirren. Das muß aufhören, früher oder später muß das aufhören. Mirjam hat immer öfter Probleme mit einer brennenden Speiseröhre, weil sie den Wodka pur reinschüttet. Sie bekommt auch Sodbrennen davon, das sie mit Rennies bekämpft. Vorläufig überwiegt die Erleichterung: Wir haben es wieder einmal geschafft, die totale Abstinenz um einen Tag hinauszuschieben.
    Mirjam kehrt mit einem Tablett zurück, auf dem auch eine Schale mit Pata-Negra-Schinken steht (oder Makrelenstücke oder Toast mit Paté). »Heute abend muß es noch mal sein.« Für sich selbst hat sie einen Wodka mit Orangensaft gemixt. Ich bekomme ein besonders großes Glas mit einemdoppelten Gin, verdünnt mit Tonic. Meine Lieblingsmarke: Bombay Sapphire.
    Wenn Tonio hier wieder einmal unerwartet hereinschneite, würde er eines von beiden wählen, Gin Tonic oder Wodka Orange, und beließe es dann meist bei einem Glas. Mirjam und ich stoßen an. Sie trinkt sich über ihren Kloß im Hals hinweg und schüttelt den Kopf.
    »Daß er hier nie wieder sitzen wird mit so einem hohen Glas … es ist nicht zu fassen.«
3
     
    Ein Motiv in dem Roman, an dem ich bis Pfingsten gearbeitet hatte, war das des von zwei Liebenden gemeinsam begangenen Selbstmords (in diesem Fall um einer grauenhaften Verlassensangst ein Ende zu machen).
    Habe ich Mirjam je vorgeschlagen, gemeinsam abzutreten, um so dem Schmerz Einhalt zu gebieten? Nein. Der Gedanke war unausgesprochen zwischen uns da. Wir haben ihm nicht nachgegeben. Oder doch? Es existieren auch langsame Formen von Selbstmord, zum Beispiel indem man eine schleichende Selbstzerstörung ihr Werk tun läßt. Es ist noch zu früh für die Schlußfolgerung, ob wir dem beleidigenden Geschehen unwiderruflich erlegen sind oder nicht. Gut möglich, daß das, was wir für einen Überlebenskampf halten, die letzten Zuckungen des unvermeidlichen Untergangs sind.
    Jemand schrieb: »Würde Tonio gewollt haben, daß ihr an seinem Tod zugrunde geht?«
    Obwohl Tonio sich diese Frage wahrscheinlich nie gestellt hat, weil seine Lebenslust ihm die nicht erlaubte, habe ich dem Briefschreiber geantwortet: »Nein, das hätte Tonio niemals gewollt. Wir machen in seinem Sinn weiter.«
    Andererseits: Was kann man als Eltern schon anderes tun, als an der Vernichtung eines solchen Jungen zugrunde zugehen? Wir wehren uns gegen den eigenen Untergang und machen uns weis, Tonio hätte uns durch seinen Tod niemals in seine Vernichtung mitreißen wollen, doch vielleicht gehen wir, ob wir uns nun wehren oder nicht, ganz selbstverständlich trotzdem daran zugrunde. Das würde bedeuten, daß unsere Liebe zu ihm stärker ist als unser Überlebensdrang, unser Selbsterhaltungstrieb.
    Mirjam und ich befinden uns mitten in der Genesung, oder wir stecken bis zum Hals in der Selbstvergiftung. Spielt es eine Rolle? Die Alkoholflaschen in der Diele haben Medizin oder Gift enthalten – so oder so, sie sind leer.
    Mit Selbsthilfemaßnahmen bekommen wir Tonio nicht zurück und mit unserem Untergang genausowenig. Für einen lebenden Tonio lohnte es sich, mit aller Kraft zu überleben. Gerade weil wir ihn so springlebendig erlebt haben, ist es verführerisch, an einem gestorbenen Tonio zu zerbrechen.
4
     
    Wenn ein neuer Bombay Sapphire angebrochen werden muß, bringt Mirjam mir die Flasche, sie selbst kann sie nicht öffnen. Der einzige Nachteil dieser vorzüglichen Marke besteht darin, daß die Schraubkappe kein Relief hat, an dem die Finger Halt finden, und schon gar nicht, wenn sie feucht von den Eiswürfeln sind. Auch meine trockenen Finger schaffen es selten, ohne eine Blase zu bekommen. Ich glaube allmählich, daß die Designer dieser Flasche (viereckig, das Glas hellblau wie ein Frühlingshimmel) absichtlich einen glatten Deckel gewählt haben, um für den hörigen Konsumenten einen zusätzlichen Besinnungsmoment zu schaffen. Ich beiße die Zähne zusammen und drehe und wringe, während meine die Flasche umklammernde linke Hand bis ins Mark kalt wird. Und ich tendiere dazu (oder bin zumindest geneigt) zu denken: Was heißt da künstliche Entspannung, wenn sie eine solche Anstrengung erfordert.
    An Tonios Vernichtung zugrunde zu gehen: Das bleibt in seiner ganzen

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