Tonio
Bretterboden der Veranda fallen? Das Geschehene reichte dafür doch aus, oder? Was Jenny empfand, war mir nicht klar, aber Mirjam und ich – für wen oder was hielten wir uns tapfer?
»Jenny, wenn du den Gin Tonic noch willst«, sagte Mirjam, »dann schlage ich vor, daß wir im Wohnzimmer weiterreden. Es wird langsam ein bißchen kühl.«
»Aber mit ganz wenig Gin«, sagte Jenny. »Ich spür‘s jetzt schon.«
Wir gingen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Mirjam verschwand in die Küche. Jenny setzte sich im Wohnzimmer (ich nahm an, ohne zu wissen, was sie tat) auf Tonios Stammplatz. Mir wurde bewußt, daß ich das Gespräch jetzt aufs Paradiso bringen mußte: die nicht eingehaltene Verabredung. Wieder sah ich mich gezwungen, mir die Frage zu stellen, ob ich wirklich wissen wollte, wie das Schicksal die veränderten Gegebenheiten genutzt hatte.
»Nach der Fotosession«, begann ich, als Mirjam mit dem Tablett hereinkam, »erzählte Tonio mir, daß er am Samstagabend zu einer Fete im Paradiso wollte. Mit dir. Du hättestihn eingeladen. Ein italienischer Abend, sagte er. Italienische Tophits aus den achtziger Jahren. Eros Ramazzotti und so.«
»Ach, das.« Jenny machte eine wegwerfende Handbewegung. Es hatte etwas Beschämtes. Sie trank von dem Gin Tonic, der ihre Stirnhaut in Unordnung brachte. Ich war mir nicht so sicher, ob Mirjam sich an das »ganz wenig Gin« gehalten hatte. Ich kannte ihre Dosierungen.
»De facto«, fuhr ich fort, »ist Tonio an dem Abend gegen Mitternacht in die Discothek Trouw gegangen. In der Wibautstraat. Mit einem Freund und einer Freundin. Dennis und Goscha. Wir haben mit den beiden gesprochen. Sie waren den ganzen Abend mit ihm zusammen. Dennis schon vom Nachmittag an. In ihrem Bericht kommst du nicht vor. Sie kannten dich nicht. Ja, Tonio hatte von dir erzählt. Das schon. Von einer Verabredung im Paradiso wußten Dennis und Goscha nichts. Wenn du nicht darüber sprechen willst, Jenny … vollstes Verständnis. Aber wir wüßten so gern …«
»Natürlich«, sagte Jenny schnell. »Obwohl ich selbst nicht mehr genau weiß, was mit dieser Verabredung eigentlich schiefging. Tonio und ich haben an dem Samstagnachmittag noch in Facebook miteinander gechattet. Er schlug vor, anstatt ins Paradiso ins Trouw zu gehen. Ich erfuhr, daß das was Neues war, in einer ehemaligen Druckerei. Tanzen zu Techno. Ich erklärte, ich ginge lieber in eine ruhige Kneipe, wo man sich wenigstens verstehen kann. Ohne laute Musik. Tonio chattete zurück, er sei noch ziemlich fertig vom Abend davor. Fertig, ja, das Wort benutzte er. Er habe sehr lange mit Freunden im Terzijde gesessen, in der Kerkstraat, und davon sei er noch immer ganz fertig. Ich denke, er wollte sich dieses Fertigsein lieber im Trouw raustanzen, als wieder in einer Kneipe zu hocken.«
»Ich hör‘s schon«, sagte ich, grimmiger als beabsichtigt. »Eine ruhige Kneipe … Das hat ihn natürlich abgeschreckt, dann allein auf seine Unterhaltung angewiesen zu sein.«
»Das klingt so unumstößlich«, sagte Mirjam.
»Ich war in dem Alter selber so«, sagte ich. »Im Lärm der Disco, mit der ganzen Ablenkung durch die Tanzenden und so, dann, glaubte ich, würde ich es bei einem Mädchen schaffen, das ich noch nicht gut kannte. Ich habe nie mehr von mir in Tonio wiedererkannt als in den letzten zwei Monaten.«
»Wir haben uns nicht wirklich gestritten oder so«, erzählte Jenny weiter. »Nur … wie wir diesen Samstagabend verbringen wollten, darüber konnten wir uns nicht einigen. Nach Pfingsten wollten wir wieder Kontakt aufnehmen. Er mit mir oder ich mit ihm. Auch wegen der Fotos.« Sie beugte sich vor, die Unterarme auf den Knien, und schaute nicht länger uns an, sondern das Glas vor ihr auf dem Sofatisch. »Das Problem war … ich gehörte nicht zu Tonios Freundeskreis. Niemand kennt mich. Niemand hat mich benachrichtigt. Pfingstmontag und dann am Dienstag … Tonio ging nicht an sein Handy. Mittwoch, noch immer nicht. Ich entdeckte, daß sich auf seiner Facebookseite schon seit Tagen nichts mehr getan hatte. Keinerlei Aktivität. Ich bekam schlechte Vorgefühle. Vielleicht sollte ich sagen: schlechte Nachgefühle. Dazu kam, daß meine Mutter die ganze Woche in Marokko war. Ich war allein zu Hause. Ich konnte nichts bei mir behalten. Alles kam wieder raus, und nicht nur oben. Ich hatte zwar telefonischen Kontakt mit meiner Mutter, aber ich konnte ihr nicht erklären, was genau los war. Ich wußte es selbst nicht. Als sie am Ende der
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