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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Woche nach Hause kam und mich in diesem Zustand vorfand, hat sie sofort gegoogelt. Sie fand eine Seite, und darauf hatte jemand Fotos von Tonio gestellt. Zu einem Nachruf. Da hatten wir Gewißheit.«
    Sie weinte nicht, aber als ich genauer hinschaute, sah ich ein Glitzern auf der unteren Wimpernreihe – als ob es da hingehörte, Teil ihres Make-ups. Das war es also: ein digitales Gekabbel auf Facebook hatte den Lauf der Dinge verändert, und zwar gründlich. Das Schicksal bediente sich heutzutage auch schon eines social network .
20
     
    Jenny sog die letzten Tropfen aus ihrem Glas und stand auf. »Ich bin schon viel zu lange hier. Ich muß jetzt wirklich gehen.«
    »Du hast dir die Fotos noch nicht angesehen«, sagte Mirjam.
    »Kann ich das ein andermal machen?« Es klang fast flehend. »Das wird mir jetzt zuviel.«
    Mirjam hatte einen großen Pappumschlag in der Hand, der fast zum Bersten gefüllt war. »Du nimmst sie aber doch mit, oder …«
    »Darf ich sie hierlassen? Wenn es euch recht ist, komme ich noch mal vorbei. Ich denke, dann schaff ich es, sie mir anzusehen.«
    »Ich weiß natürlich nicht«, sagte Mirjam, »wie schnell du die Modelagenturen damit abklappern willst …«
    »Ach, das.« Wieder diese Wegwerfbewegung. Jenny ging ein paar Schritte auf die Wohnzimmertür zu und drehte sich dann unsicher um. »Ist es euch recht, wenn ich … ich würde so gern noch mal in Tonios Zimmer.«
21
     
    »Dieses blödsinnige Dilemma, von dem ich immer gesprochen habe«, sagte ich zu Mirjam, »ich weiß erst jetzt, daß es kein Dilemma war . Ob etwas zwischen Tonio und dieser Jenny im Gange war oder nicht … beide Möglichkeiten schienen mir gleich schlimm. Ich wollte keine der beiden Versionen hören. Heute nachmittag wäre ich beinahe abgehauen. Jetzt ist mir klargeworden, und zwar mehr aus dem unausgesprochen Gebliebenen, daß es eindeutig um mehr ging als um diese Fotografiererei. Und genau das, wird mir jetzt bewußt, genau diese Version hatte ich nicht hören wollen. Es gab gar kein Dilemma. Wenn Jenny uns deutlich gemacht hätte, daßes, jedenfalls soweit es sie betraf, nur eine Art professioneller Transaktion war … etwas zwischen Model und Fotograf … dann hätte ich mich höchstens, stellvertretend für Tonio, übergangen fühlen können. Keine letzte Romanze kurz vor dem Abschied. Gut, das wäre schon einsam genug gewesen. Aber das , was jetzt passiert ist … das Abgeschnittensein von einer offenen Möglichkeit … das verkrafte ich nicht.«
    Mirjam, neben mir auf der Couch, nickte. Nachdem Jenny gegangen war, hatte Mirjam die Gläser nachgefüllt, aber wir rührten sie nicht mehr an. Vor ein paar Tagen, kurz nach Jennys Anruf, hatte ich noch gehofft, ungeachtet aller pechschwarzen Überlegungen würde mein Herz ganz kurz höher schlagen, wenn sich herausstellte, daß zumindest von einer gewissen Verliebtheit die Rede sein konnte, und zwar auf beiden Seiten. Eine Fehleinschätzung: Gerade hatte eine leise, bescheidene Mädchenstimme den denkbar größten Schrecken für uns formuliert.
    Den Schrecken all dessen, was hätte sein können, und all dessen, was für immer und ewig nicht hatte sein dürfen.
    »Das ist so ein Moment«, flüsterte Mirjam, »wo mir wirklich bewußt wird, daß er nicht mehr da ist. Wir haben ihn verloren.«
22
     
    Am Morgen nach Jennys Besuch stieg ich die Treppe zu meinem Arbeitszimmer hinauf, das ich jetzt mit Tonios und Jennys Augen betrachtete, im Frühjahrslicht des zwanzigsten Mai.
    »Wir können auf dem Dach noch einen letzten Shoot machen«, hatte er möglicherweise gesagt. »Aber dahin geht es nur über eine steile Leiter.«
    Das fand sie spannend. Er ging die Treppe voran in den dritten Stock. »Hier arbeitet mein Vater.«
    Jenny hatte nach ihren eigenen Worten kurz herumgeschnüffelt. Auf dem langen Sortiertisch lagen Zeitungsausschnitte und noch nicht abgeschlossene Manuskripte. Sie hatte Tonio nach den Stadtplänen von Amsterdam und Amstelveen und Valkenburg gefragt, die ausgebreitet nebeneinander auf dem Tisch lagen. »Was haben die mit seiner Arbeit zu tun?«
    Es gelang mir, ihre Stimmen in ihrer ganzen Klarheit heraufzubeschwören.
    »Soviel ich weiß«, sagte Tonio, »arbeitet er an einem Roman über den Mord an einer Polizistin. Den gab‘s wirklich, vor zwei Jahren in Amstelveen. Ich vermute, auf den Plänen tüftelt er an Routen oder so … Da, die Leiter müssen wir rauf.«
    Er zeigte Jenny eine Aluleiter, die an der Seitenwand des Balkons angebracht war

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