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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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war schließlich direkt oder indirekt eine Hinleitung zu meinem größten Versagen: dem Verunglücken meines Sohnes, ohne daß ich es verhindern konnte.
    Ich blicke zurück auf meine Vergangenheit, und was ich sehe, ist nicht das unausweichliche Verstreichen der Zeit, nein, ich sehe nur unnötigen Zeitverlust. Fruchtloses Geschluder mit Tagen und Monaten und Jahren.
    Ich vermute, daß ich den Gegnern meines Werks keinen größeren Gefallen tun kann, aber ich gestehe, daß seit dem Schwarzen Pfingstsonntag kein einziges von mir geschriebenes Buch Gnade vor meinen Augen findet (einschließlich des vorliegenden Buches). Früher habe ich alles wie ein Löwe verteidigt. Jetzt werfe ich alles den Löwen zum Fraß vor. Was immer ich gemacht und unternommen habe, es wird rückwirkend von dem Verlust angegriffen, der am Ende klafft. Tonio war einer der Hauptgründe zu schreiben, bereits viele Jahre vor seiner Geburt, weil ich mehr als eine Ahnung von ihm hatte. Ich wußte, er würde kommen und was er für mich bedeuten würde, und ich bereitete mich gründlich auf sein Kommen vor.
    Er kam, und er verschwand wieder, und jetzt ist alles, mitdem ich ihm ein vollwertiges Leben ermöglichen wollte, befleckt und angegriffen. Sein vorzeitiger Tod beweist, daß ich die Dinge falsch angepackt habe, mit zu wenig Einsatz, und daß ich Wichtiges übersehen habe. Für Harry Mulisch beweist ein Schriftsteller, der an der Straßenbahnhaltestelle der Linie 2 wartet und dort von einem Meteoriten getroffen wird, daß er kein Talent hat. Ich habe zugelassen, daß mein Sohn in einer ruhigen Nacht von einem ähnlichen Geschoß getroffen wurde – was ich durch all meine Schreibanstrengungen zu verhindern versucht hatte.
    Kein Talent also.
26
     
    Tonios Vater war Schriftsteller. Als Heranwachsender verstand er die unterschiedslose Ablehnung, ja, sogar den Haß, nicht, den das hervorrufen konnte. Bei einem Schulfest, für das er stolz seinen Jungensmoking angezogen hatte, grenzte man ihn bewußt aus. Ein paar der Mädchen, die er tapfer zum Tanzen aufforderte, sagten: »Mir dir tanz ich nicht, du Schmierfink.«
    Es schien eine Absprache vorzuliegen. Eine kleine Verschwörung. Als er nach Hause kam, ließ er sich nichts anmerken: Natürlich war es schön gewesen. Doch sein Freund Alexander wußte: »Für Tonio war es nicht so schön. Niemand wollte mit ihm tanzen. Die Mädchen haben Schmierfink zu ihm gesagt.«
    Da brach das Leid heraus. Ich stehe zu dem Klischee, wenn ich sage, mein Herz blutete beim Bild eines hübsch herausgeputzten Tonio, komplett mit weinroter Fliege, der mit den Worten abgewiesen wurde: »Nein, du Schmierfink, mit dir nicht.«
    Auf Nachfrage stellte sich heraus, daß es wahrscheinlich mit einer kurz zuvor ausgestrahlten literarischen Diskussion zusammenhing, in der eine intellektuelle Dame, eine Romanistin, das Urteil »durch und durch schweinisch« über mein jüngstes Werk verhängt hatte. Ich hatte mir die Sendung nicht einmal angesehen, doch das »durch und durch Schweinische«, das Tonios Vater anhaftete, hatte sich auf die eine oder andere Weise unter den Bekannten Niederländern und ihren Sprößlingen in der Cornelis Vrij Schule verbreitet.
    Ein paar Jahre später, Ende August 2000, saß Tonio neben mir an einem Stand auf dem Büchermarkt an der Amstel. Nach dem Sommer sollte er aufs Gymnasium wechseln, doch ihm lag noch immer viel daran, sein eigenes Autogramm in die von seinem Vater signierten Bücher zu setzen. Er trug inzwischen eine Brille und hatte sich die Haare kürzer schneiden lassen, wodurch er jünger und wehrloser wirkte als ein paar Monate zuvor bei seinem Abschied von der Cornelis Vrij Schule. Er schien sich, zaghaft, des wichtigen Sprungs nach vorn bewußt, der von ihm erwartet wurde – wenngleich er den ganzen Nachmittag eine Beule in der Wange von den Lutschern hatte, mit denen die Verlegerin ihn regelmäßig versorgte.
    Auf ihre Bitte hin hatte ich meinen Teil des Stands so eingerichtet, als wäre es eine Ecke meines Arbeitszimmers daheim. Mit Hilfe von Tonio hatte ich sogar aus meinen Vorräten an irreführend vergilbtem Fälscherpapier einige Mogelmanuskripte zusammengestellt, fest mit Bindfaden verschnürt und auf die Schutzblätter die Titel aus »Homo Duplex«, einem im Werden begriffenen Romanzyklus, gesetzt. Tonio hatte das noch mehr Spaß gemacht als mir. Am Stand stellte ich zwischen den achtlos hingelegten »Manuskripten« auch alte Tintenfässer und andere Schreibutensilien aus. Mir

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