Tonio
mit professionellem Blick um sich geschaut hatte. In der Nähe stand das gläserne Treppenhaus von Nachbar Kluun, das zuseiner im Ausbau befindlichen Dachterrasse führte. Nein, das mußte aus dem Bild bleiben. Wenn er Jenny fotografierte, wollte er die Weite des städtischen Horizonts als Hintergrund haben.
Tonio trat an den Dachrand, so nah er sich traute. Die Obrechtkerk mit ihren beiden Türmen wie eine etwas plumpe Kathedrale könnte einen interessanten Hintergrund abgeben. Es gelang ihm nicht, Jenny mit Worten nahe genug an den Dachrand zu bekommen.
»Ich hab Höhenangst.« Zum erstenmal an jenem Nachmittag hatte ihre Stimme etwas Piepsiges.
Tonio blickte über das bizarre steinerne Labyrinth, dessen Gänge hier und da mit wolkigem Grün gefüllt waren. Er konnte das Rijksmuseum mit seiner roten Fassade zu diesem Zeitpunkt einfach als eine Kulisse für das Fotoshooting betrachten. Für mich war das Gebäude jetzt ein Signal, das anzeigte: Hier, in meinem Schatten, an meinem Fuße, ist Tonio wenige Tage nach dieser Fotosession zugrunde gegangen .
24
Ich stieg die Feuerleiter wieder hinunter, schloß die Balkontür, doch anstatt nach unten zu gehen, stapfte ich tatenlos durch mein Zimmer. Das Material für mein in Arbeit befindliches Buch stand, ordentlich auf Leitz-Ordner verteilt, oben auf den Archivschränken. Hier und da zog ich einen hervor. Ich schlug ihn auf, blätterte darin. Alles, was ich las, zerbröselte vor meinen Augen. Selbst einen solchen Ordner an seinen Platz zurückzustellen lohnte die Mühe eigentlich nicht mehr.
Als wir in dieses Haus zogen, hatte die dritte Etage aus drei Räumen bestanden: zwei Jungenzimmern (eines mit Eckbar) und einer mit Kork ausgekleideten Dienstbotenkammer. ‘97 hatte ich alle Innenwände zugunsten eines großen L-förmigen Raums durchbrechen lassen. Nachdem derBautrupp fort war, stand ich sprachlos auf dem spiegelnden Parkett, während Tonio um mich herum trabte, die Arme zu Flugzeugflügeln ausgebreitet, und dabei fröhlich lachte und rief. Eine solche Arbeitsetage hatte ich mir immer erträumt, und das wußte er.
Ich inspizierte die zahllosen Schlösser der Schubladen- und Archivschränke. Die Schlüssel steckten darin, in ihren Augen Ringe, an denen die Reserveschlüssel hingen, sacht baumelnd im von Tonio verursachten Luftzug.
»Wie soll ich bloß die ganzen Schlüssel auseinanderhalten«, sagte ich mehr oder weniger zu mir selbst.
»Ich weiß, wie«, rief Tonio. Er rannte zwei Treppen hinunter, und dann wurde es still. Ich stand auf dem Flur und lauschte. Aus der Küche im ersten Stock ertönte auf einmal Flaschengeklirr. Kurz darauf schlug die Kühlschranktür zu. Tonio kam die Treppen wieder heraufgetrabt, in der Hand ein paar Blätter mit selbstklebenden Miniaturetiketten in verschiedenen Farben, die man, mit Datum versehen, auf Gefriergut klebt. Blitzschnell beklebte er damit Schlösser, Schlüssel und Reserveschlüssel der Büroschränke, nachdem er für jedes Schloß einen Zahlencode darauf notiert hatte. Gelb, grün, rot, blau … Er verrichtete seine Arbeit lachend, mit einem Hauch von Hohn in den Untertönen, weil sein Vater nicht auf diese Idee gekommen war.
»Siehst du, Adri.« Schon war er fertig. »Total einfach.«
Jetzt, dreizehn Jahre später, klebten die Tiefkühletiketten, von seiner Hand numeriert, noch immer auf Schlössern und Schlüsseln. Vor allem wenn ich verreist war, hatte ich mich darüber gefreut – schließlich mußte nicht jeder während meiner Abwesenheit das Archiv einsehen. Ich ging an den Schränken entlang, tippte mit dem Zeigefinger an die herunterhängenden Reserveschlüssel und sagte mir grimmig, daß das Kennzeichnen der Schlösser durch Tonio die einzige sinnvolle Arbeit war, die seit dem Umbau in dieser Etage verrichtet worden war.
25
In dem Film Hans, het leven voor de dood (Hans, das Leben vor dem Tod) von Louis van Gasteren kommt die Mutter von Hans van Sweeden zu Wort. Als sie die Nachricht vom Selbstmord ihres Sohnes erhalten hatte, war, so erzählte sie, ihre erste Reaktion: »Mein Kind ist tot … jetzt werden nie mehr Blumen blühen.«
Ich erkenne diesen Herzensschrei wieder. Bei mir wirkt die Düsternis jedoch auch in die Vergangenheit zurück. Wohin ich in dem Leben blicke, das hinter mir liegt, ich sehe nur Scheitern und Vergeblichkeit. Jeder Versuch, irgend etwas, egal, was, zustande zu bringen, kann im nachhinein meiner Mißbilligung und meines Abscheus gewiß sein. Alles, jede Handlung,
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