Tonio
die er zu mir sagte, wenige Tage vor seinem Tod, war, mit seinem einnehmenden, leicht spöttischen Lächeln: »Bist du schon bei deinen zehn Seiten pro Tag?«
Vor etwas längerer Zeit sagte er, er erinnere sich noch, als er zwölf war und zum erstenmal aufs Gymnasium ging, ich hätte vorhergesagt (versprochen, eher), Homo Duplex sei fertig, wenn er Abitur mache.
Ich habe ihm also noch einiges zu beweisen.
Im nächsten Moment fege ich diese Ambitionen wieder als überholt vom Tisch.
Ich bin jetzt sowohl Waise als auch kinderlos. Wie aus einem Gekabbel mit Mirjam deutlich wurde, bin ich nicht der Typ, der wie so viele meiner unzufriedenen Generationsgenossen eine zweite Brut in Angriff nimmt. Ich werde zu gegebener Zeit ohne noch lebende Nachkommen sterben müssen. Wenn man dann noch bedenkt, daß literarische Werke den Urheber immer weniger lange überleben, sofern es nicht überhaupt der Urheber ist, der sein eigenes Werk überlebt, darf man folgern: Auf mich wartet am Ende des Weges die Vergessenheit.
29
Der Verlust Tonios hat, bei Mirjam noch stärker als bei mir, eine ganze Reihe von Lebensfragen zugespitzt. Ich stelle bei ihr manchmal eine Absolutheit fest, die mich erschreckt.
Mirjam war ein Vaterkind. Wie gesagt, bereits als junges Mädchen hatte sie die größten Probleme mit ihrer Mutter, doch sie besaß in diesem Alter die Gabe der glückseligen Absonderung, woran die Kleinheit ihres Zimmers keinen Abbruch tat. Mehr noch als in ihr Kämmerchen zog sie sich in sich selbst zurück.
Wie schlecht das Verhältnis zu ihrer Mutter gewesen war, merkte ich erst, als ich den Bericht in Form einer Novelle las, den Mirjam über ihre Jugend geschrieben hatte. Ihre Mutter hatte immer schon unter psychischen Zusammenbrüchen gelitten und mit Selbstmord gedroht, doch erst als die Probleme offenkundig wurden und sie in der Valeriusklinik landete, geriet ihre jüngere Tochter in Rage. Es gelang Mirjam nicht mehr, ruhig zu bleiben, wenn sie sich mit ihrer Mutter im selben Raum aufhielt. Eine kurze gemeinsame Autofahrt wurde zu einem riskanten Unternehmen, sogar für die immer so sicher chauffierende Mirjam.
Jetzt, da sich nach Tonios Tod die familiären Beziehungen beschleunigt auflösten, versuchte ich, noch etwas zu retten, indem ich meine Schwiegermutter immer wieder im Sint-Vitus-Heim anrief, in das sie nach dem Krankenhausaufenthalt zurückgekehrt war – auch wenn ich wußte, daß ich dadurch selbst noch tiefer in ein schwarzes Loch geriet.
»Schafft ihr es … seid ihr euch gegenseitig eine Stütze? Nein, schafft ihr es … ich habe gefragt: schafft ihr es? Hauptsache, ihr seid euch gegenseitig eine Stütze.«
Ich sage dreimal, daß wir es mehr oder weniger schaffen und daß wir uns gegenseitig eine große Stütze sind, wir aber strikt zusehen müssen, zu zweit über den Tag zu kommen. Um Himmels willen keine weiteren Personen. Früher oderspäter kommt ihr bevorstehender, jedenfalls baldigst gewünschter Tod zur Sprache.
»Ich will nicht mehr leben. Ich hoffe, es ist bald zu Ende. Ich will zu Tonio … ich will bei Tonio sein.«
Wahrscheinlich will sie hören, daß ich sie zur Ordnung rufe und sage, daß wir sie brauchen, gerade jetzt. Ich kann es nicht über mich bringen und sage: »Ja, das verstehe ich.«
»Hier sagen sie, ich muß euretwegen am Leben bleiben. Ich habe schon gesagt … keine Medikamente mehr, kein Essen mehr, kein Trinken … aber das können sie nicht einfach so machen. Obwohl, ich will nicht mehr … ich will sterben. Ich will zu Tonio, dem lieben Tonio. Er ist hier. Ich spüre ihn. Ich spreche mit ihm.«
Sie tut mir leid. Ich zweifele nicht an der Aufrichtigkeit ihres Kummers um Tonio. Aber kannst du – bitte! bitte! – Rücksicht auf die Trauerzeit nehmen, Wies, durch die deine Tochter jetzt muß? Ist dir nicht klar, wie unerträglich deine Todesankündigungen für sie sind, weil sie noch lange nicht fertig ist mit der einen Todesankündigung vom Pfingstsonntag?
Ich bin zu feige und kaputt, ihr das zu sagen.
»Wie geht es denn Mirjam … ich verstehe gut, daß sie jetzt keinen Kontakt mit mir will. Das verstehe ich sehr gut. Aber ich hoffe doch so , daß ich euch wieder mal sehe. Später … später.«
Sie bittet mich, Mirjam von ihr zu grüßen, aber genau das ist das Problem. Sie geht davon aus, daß unser Gespräch ihre Tochter erreicht, aber dann muß ich Mirjam auch alle Todeswünsche ihrer Mutter übermitteln, und genau darauf ist sie nicht gerade
Weitere Kostenlose Bücher