Tonio
graute immer vor diesen Signiernachmittagen auf dem Büchermarkt: Schriftsteller auf einem Klappstuhl an einem Stand, auf den einen Kunden wartend. Egal, welche Miene man aufsetzte, man hatte immer das Gefühl, es war eine schmachtende.
Auf Blätter des vergilbten Papiers schrieb ich Aphorismenaus dem im Entstehen begriffenen Werk und versah sie mit mysteriösen chinesischen Stempeln – tja, irgendwas mußte man tun. Tonio, wie immer gutgelaunt, half mir lachend beim Stempeln und reichte mir das Material.
Als es am späteren Nachmittag etwas ruhiger wurde, fiel mir eine kleine Gruppe junger Männer in der Nähe des Standes auf. Sie hielten sich dort schon länger auf, doch erst jetzt spürte ich ihre auf mich gerichteten, ausgesprochen haßerfüllten Blicke. Irgend etwas paßte ihnen eindeutig nicht. Plötzlich kam einer von ihnen auf den Stand zu. Er schob die Finger unter die Bindfäden, die die unbeschriebenen Manuskriptseiten zusammenhielten, und begann, die Papierpacken durch die Gegend zu schmeißen, ohne etwas zu sagen, aber mit unverändert heftiger Wut im Blick. Tonio erschrak so, daß er mitsamt seinem Stuhl zurückfuhr. Furchteinflößend waren vor allem die harten Schläge, mit denen der junge Mann die »Manuskripte« auf den Holztisch knallte, in Verbindung mit dieser stummen Raserei.
Heute denke ich: eine Gruppe Möchtegernschriftsteller, die mich demaskieren wollten, aber trotzdem zitterten Tonio die Beine.
»Warum hat er das getan ?«
Es war vielleicht das letzte Mal, daß ich seine Unterlippe beben sah. Und sicher das letzte Mal, daß er mit mir signierte – aber das hing auch mit Schule und Alter zusammen.
27
Tonio, durch dich habe ich alles verloren. Mein Leben. Die Hoffnung, dich an meinem Sterbebett zu sehen. Irdische Güter waren für dich bestimmt. Da es keinen Grund gibt, länger nach ihnen zu streben, gebe ich sie verloren. (Ich werde versuchen, dieses Haus zu retten, weil deine Mutter so daran hängt. Schließlich ist sie in dieser Gegend geboren.)
Mein Streben, mein Werk, die Versuche, so etwas wie einePersönlichkeit zu entwickeln … meine ganze Welt ist in dein Grab geronnen. Geschmolzener Schnee, und Tonio die Sonne.
Als ich gerade mit dem Schreiben angefangen hatte, gab ich vor, leichtsinnig über meine Verhältnisse zu leben, um am Rande eines Bankrotts vorbeizuschrammen und mich so zur Produktivität zu zwingen. Het bankroet dat mijn goudmijn is (Der Bankrott, der meine Goldmine ist) war der Titel eines bibliophilen Büchleins, das ich später veröffentlichte. Der Bankrott ist erst jetzt eingetreten, durch dein Verschwinden, und jetzt, wo er da ist, erweist er sich als dürr und unfruchtbar. Der Bankrott meine Goldmine? Ich war reich. Du warst das Kapital meines Daseins. Ich hatte nicht einmal eine Lebensversicherung für dich abgeschlossen, so sicher war ich, sie bräuchte nie eingelöst zu werden. Oder vielleicht ertrug mein Aberglaube die monatlichen Beiträge nicht …
Das einzige, was mir von deinem Verschwinden geblieben ist, ist Freiheit – wenngleich eine von zweifelhafter Art. Ich bin jetzt frei von Verpflichtungen. Niemand braucht mich mehr an alte, noch einzulösende Versprechen zu erinnern. Am Schwarzen Pfingstsonntag sind sie ungültig geworden. Seit an jenem dreiundzwanzigsten Mai zwei Unheilsengel der Amsterdamer Polizei vor meiner Tür standen, lache ich über jeden Gerichtsvollzieher.
Ich fühle mich frei, das mir verbliebene Leben strikt nach meinem Gutdünken zu gestalten. Wenn ich mich nicht ganz dem Müßiggang hingebe, dann, weil ich auch künftig für deine Mutter sorgen will. Das ist die einzige Verpflichtung, die ich noch akzeptiere, auch im Namen ihres Sohnes.
28
Der Tod Tonios hat folglich die Nutzlosigkeit meines Lebens bewiesen. Indem er starb, hat er seinen Vater achtlos wie einen Mantel abgeworfen. Ich tauge nur noch für denVersuch, mit Hilfe von rituellem und assoziativem Schreiben möglichst viel von seinem Leben zu erhalten. Fast zwanghaft komponiere ich mein Requiem für ihn, über ihn. Sein kurzes, schönes Leben darf nicht einfach ins Vergessen absinken, so wie sein schöner, geschundener Leib in die Erde gesunken ist.
Und danach? Tonio war, wie gesagt, bereits vor seiner Geburt mein Hauptgrund zu schreiben. Eine Muse männlichen Geschlechts. Vor allem in den letzten Jahren merkte ich, daß ich ihm zeigen wollte, was ich wert war, auch in der Hoffnung, er würde mir zeigen wollen, was er wert war.
Eines der letzten Dinge,
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