Tonio
Später an diesem Nachmittag fuhren wir mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Jedesmal, wenn wir etwas zu feiern hatten, taten wir das im Restaurant De Bisschop in Leiden. Von allem, was wir bestellten, erinnere ich mich nur noch an die Flasche Margaux, die bis auf ein halbes Glas für mich war.Während der Wein mich zum Glühen brachte, blickte ich sprachlos auf das Mädchen mir gegenüber, das noch immer mein Mädchen war, seit diesem Morgen jedoch mit einem glückseligen Mehrwert, der unteilbar von uns beiden stammte.
Wenn sich die Frucht als lebensfähig erwies und zu einem voll ausgetragenen Kind entwickelte, dann durfte ich es nie aus den Augen lassen. Schreiben? Nur um für das Kleine und seine hingebungsvollen Eltern den Lebensunterhalt zu verdienen, und das auch nur in den Pausen der Vaterschaft. Es war ein heiliger Eid, den ich im De Bisschop stillschweigend ablegte. Schreck und Freude durchfuhren mich abwechselnd.
»Ich habe Theo so oft den Titel seiner Oper nennen hören«, sagte ich zu Mirjam. »Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir es Esmée.«
»Laß das bloß nicht Frans hören«, sagte sie. »Wir reden in drei Monaten noch mal darüber.«
KAPITEL II
»Wer ist denn der dritte?«
1
Wegen des Kindes, das unterwegs war, beschlossen wir, auch gleich zu heiraten. Die Eheschließung sollte am 24. Dezember 1987 stattfinden. Ich hatte irgendwo gelesen, man habe in der Schweiz eine digitale Armbanduhr entwickelt, die einmal im Jahr alarmierend piepste, wobei gleichzeitig die Telefonnummer des Blumenhändlers aufleuchtete, so daß man wußte: Heute ist mein Hochzeitstag. Ich dachte, gegen Vergeßlichkeit könne auch ein besonderes Datum helfen, und weniger teuer war es obendrein.
Hochzeit am Heiligen Abend: Die Familie war nicht gerade begeistert. Am vierundzwanzigsten Dezember mußten, verdammt noch mal, Weihnachtseinkäufe erledigt werden. Wir glaubten, gut daran zu tun, die Hochzeit im kleinen Familienkreis zu feiern, ohne das Trara, das ein Empfang mit sich bringen würde, denn mein Vater litt an einem Lungenemphysem, meine Schwester war nahe dran und mein Bruder überarbeitet. Als ich jedoch die feindselige Stimmung spürte, bereute ich bereits am gleichen Tag, daß ich kein großes Gelage für Freunde, Kollegen und die Stammgäste aus meiner Lieblingskneipe organisiert hatte.
Das bei unseren Gästen ständig wiederkehrende Wort war haricots verts , die für das Weihnachtsessen in einem speziellen Gemüseladen in der Beethovenstraat geholt werden mußten. Es gab, zumindest bei meiner Schwester, meinem Bruder und meiner Schwägerin, auch Unverständnis für die Eheschließung an sich. Heiraten, das war doch out, oder?
Die einzige, die für etwas Stimmung sorgte, war meine Schwiegermutter, die alle halbe Stunde fragte, ob der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn, den ich beim Öffnen der ersten Champagnerflasche aufgelegt hatte, noch mal gespielt werden könne. Bei Tisch gestand meine Mutter, sie habe die ganze Woche über einer lustigen Rede gegrübelt. Sie hatte an die Cowboyhose erinnern wollen, die ihre Schwester in Australien mir zur Erstkommunion geschickt hatte: Sie war hinten offen und ließ so meine nackten Beine frei, was die Bengel aus der Nachbarschaft natürlich zu dem Ausruf veranlaßte: »Deine halbe Hose ist am Stacheldraht hängengeblieben.«
Das Mädchen, das immer treu auf ihrem weißen Moped bei meinem Elternhaus vorfuhr, ohne daß aus uns etwas wurde, auch damit hatte sie mich aufziehen wollen. Ebenso mit meiner Vorliebe fürs Erdbeerpflücken, um mir Geld für die Ferien zu verdienen, und mit der Weigerung, meines Vaters Honda zu übernehmen.
Doch eine solch launige Ansprache hatte die Ärmste nicht zustande gekriegt. »Also … was soll‘s«, sagte sie mit ihrer ewigen Wegwerfbewegung, die so viel bedeutete wie: Vergeßt es, für so was bin ich zu dumm.
Ich fand es schade, zumal sich auch sonst niemand die Mühe gemacht hatte, selbst die kleinste Rede vorzubereiten. Ich sah meine Schwester an. Wir waren zusammen aufgewachsen. An Nikolaus hatte ich lange, epische Gedichte für sie gereimt, sogar zu den kleinsten Geschenken. Sie hatte die Angewohnheit, sie nach dem schlecht betonten Vorlesen sofort zu zerreißen. Jetzt, da ihr älterer Bruder heiratete, hatte sie nichts zu berichten, sah man von der üblichen Handvoll schadenfroher Klatschgeschichten ab. Sie hatte den ganzen Nachmittag spöttisch um sich geschaut und dabei ununterbrochen geraucht, um bei der
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