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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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hatte ich das vor einiger Zeit als angestrebtes Pensum für den Roman genannt, an dem ich gerade schrieb. Er fragte es in hänselndem Ton, aber ich meinte trotzdem etwas von der alten höflichen Anteilnahme mitschwingen zu hören.
    »Fünf sind das Minimum«, antwortete ich. »Sechs, siebensind machbar. Acht ist ein Supertag. Setz mich bitte nicht weiter unter Druck.«
    Er hatte Opa Natan, den siebenundneunzigjährigen Großvater in der Lomanstraat, besucht, und weil er »schon mal in der Gegend« war, hatte er den kleinen Umweg zu seinem Elternhaus gemacht. Ich vermutete, daß mehr dahintersteckte.
    »Opa Natan muß am Star operiert werden«, sagte er, mit einemmal ernst.
    »Ja?« Mirjam und ich wußten von nichts.
    »Ja, eigentlich Wahnsinn … daß sie einen so alten Mann noch damit quälen.«
    »Ich muß ihn gleich ins Beth Shalom bringen«, sagte Mirjam nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Dann red ich im Auto mit ihm darüber.«
    Ich hatte den Eindruck, es tat Tonio irgendwie gut, eine gewisse Besorgnis über seinen hinfälligen Großvater zeigen zu können. Seit er aus dem Haus war, lebte er für zehn, und seine ohnehin nicht mit Familienangehörigen überbevölkerte Jugend ließ er in raschem Tempo hinter sich. Nein, er war nicht ohne Absicht vorbeigekommen.
    »Tonio, bei deinem Master waren wir stehengeblieben.« Mirjam erhob sich, um in die Lomanstraat zu fahren. »Vergiß nicht, mit Adri darüber zu reden.«
    Nachdem seine Mutter gegangen war, erklärte Tonio mir, er habe beschlossen, zu gegebener Zeit den Master in Medientechnologie zu machen.
    »Machst du nicht besser erst mal deinen Bachelor in Medien & Kultur? Du bist noch kein Jahr dabei.«
    Er grinste. »Kann nicht schaden, ab und an ein bißchen vorauszudenken.«
    Das war vielleicht seine Art und Weise, die Worte »Mangel an Ehrgeiz« auszuradieren, die seit unserem ersten und einzigen wirklichen Zusammenstoß zwischen uns stehengeblieben waren. Tonio erklärte mir, was Medientechnologie beinhaltete, und daß dieses Fach nicht an der Universitätvon Amsterdam gelehrt wurde. Er hatte herausbekommen, daß er dafür abwechselnd nach Leiden und nach Den Haag mußte.
    »Das bedeutet: umziehen«, sagte ich.
    »Das bedeutet: Zugfahren«, sagte er.
    Irgend etwas war anders an ihm als sonst, aber ich kam nicht dahinter, was. Er traute sich, weiter in die Zukunft zu blicken, und dafür mußte es einen Grund geben. Selbstsicherer war er, ja, aber seine Verlegenheit war nicht verschwunden. Vielleicht um die Augen nicht niederschlagen zu müssen, schaute er hinauf, zum Goldregen, an dem die grünen Trauben gelbe Blasen zu zeigen begannen.
    »Er blüht spät dieses Jahr«, sagte ich.
    »Tja, was willst du«, sagte Tonio, »in so einem kalten Mai.«
    Mir wurde bewußt, daß wir selten oder nie über die Natur sprachen. Beim Informationsabend des Ignatiusgymnasiums hatte er von ein paar älteren Schülern, die ihm alles zeigten, aus dem Biologieraum eine Stabschrecke in einem Glas bekommen. Das Geschenk begeisterte ihn so, daß er vom Vossius oder vom Barlaeus nichts mehr wissen wollte und sich fürs Ignatius entschied. Um die Stabschrecke herum richtete er ein kleines Herbarium ein, aber kurz darauf bat er uns um die Erlaubnis, das Tier im Vondelpark freizulassen. Mehr Liebe zur Natur besaß er nicht. Seine Leidenschaft galt den physikalischen Phänomenen. Ich war dabei, als er in der Schule zusammen mit einem Klassenkameraden die Wirkungsweise des Benzinverbrennungsmotors demonstrierte, inklusive einer Computersimulation. Es war zu schön, ihn so in seinem Element zu erleben.
    Als ich mich einmal zu Weihnachten abends, nachdem ich den Kamin angezündet hatte, laut fragte, woher die Flammen wohl ihre Form und Farbe hätten, hielt der vierzehnjährige Tonio mir einen richtigen Vortrag darüber, voller Fakten, die ich mir nie klargemacht hatte.
    »Alles eine Frage der Energie, Adri.«
    Und jetzt kommentierten Vater und Sohn allen Ernstes, ein wenig altväterlich, das verspätete Blühen des Goldregens. Zum Glück redete Tonio schon bald wieder über etwas, das der Welt der physikalischen Erscheinungen näher lag: das Fotografieren.
    »Adri, eine Bitte … Mirjam ist einverstanden, aber ich soll dich auch noch fragen. Da gibt es ein Mädchen, und dem hab ich versprochen …«
    »Aha.«
    »… ein Fotoshooting mit ihr zu machen. Es ist für eine Portfoliomappe. Es ist nämlich so … sie möchte sich was dazuverdienen als Model oder als Komparsin, und dafür

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