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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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sie wieder auf ihren ungleichen Beinen stand, erhielt sie ihren Rufnamen: Cypri. Angesichts des Resultats keine vier Monate danach hat sie ihre Aufgabe als Gedächtnisstütze sehr ordentlich erfüllt.
18
     
    Für gewöhnlich ist es die Frau, die hinterher weiß, welcher Akt aus einer ganzen Reihe in Frage kommender zur Befruchtung führte. Im Falle des Babys Tonio bin ich derjenige, der stets mit großer Bestimmtheit behauptet hat: »Am vierten Oktober 1987. An einem Sonntagnachmittag, zwischen vier und fünf.«
    Mirjam hat das nie bestritten. Wir kamen von einem Spaziergang durch das Viertel Jordaan zurück. Jacob Obrechtstraat 67. Huize Oldehoeck. Wir fuhren mit dem Lift in die vierte Etage. In der Kabine hing wie üblich der käsige Körpergeruch des ewig ungewaschenen Hausmeisters. Ich erinnere mich daran, weil Mirjam eine Bemerkung darüber machte. Ein Lieferant hatte sich einige Tage zuvor bei uns über den Gestank beklagt.
    In der Wohnung angekommen, hatten wir es offenbar eilig. Ins Schlafzimmer schafften wir es nicht mehr. Die beiden Sofas, die damals im Wohnzimmer standen, ließen auf ihren schmalen Sitzflächen keine weit gespreizten Gliedmaßen zu. Wir knieten hintereinander auf dem Zweisitzer. In der sonntäglichen Stille war nur das Plokplok vom Tennisplatz hinter dem Haus zu hören.
    Woher glaubte ich so sicher zu wissen, daß die Zeugung damals und dort stattfand? Ich erinnere mich noch, daß ich mich hoch in ihr aufrichtete und daß die Befriedigung aus größerer Tiefe zu kommen schien als sonst. Vielleicht deutete letzteres auf eine einmalig erhöhte Fruchtbarkeit hin. Unsere Berechnungen sechs Wochen später widerlegten die Annahme nicht, daß der Beginn von Tonios fötaler Existenz auf den Nachmittag des vierten Oktober fiel.
19
     
    Meinem Kalender jenes Jahres zufolge berichtete Mirjam mir am Morgen des Freitags, dreizehnter November 1987, daß der soeben durchgeführte Schwangerschaftstest positiv war. Dem belasteten Datum maß ich damals keinen abergläubischen Wert bei, und das sollte ich auch jetzt, gut zwanzig Jahre später, im Polizeibus auf dem Weg ins AMC , besser nicht tun.
    »Es sieht so aus, daß ich schwanger bin«, sagte Mirjam leichthin, als ginge es um die normalste Sache der Welt. Um mir diese häusliche Mitteilung zu machen, war sie vom Bad in die Küche gekommen, wo ich (ohne Kater, denn ich trank nicht mehr) vor einem späten Frühstück saß.
    »Schwanger«, wiederholte ich kauend und nickend, »keine besonders gute Nachricht.«
    So sahen wir einander eine Weile mit gespielter Niedergeschlagenheit an – bis ich es nicht mehr aushielt, aufsprang und sie an mich drückte.
    »Au …!«
    »Ach, Minchen, ist das schön … ist das schön.«
    Als ich meine Umarmung ein wenig lockerte, um ihr in die Augen sehen zu können, zog sie schon wieder ihr bekanntes Clownsgesicht mit den heruntergezogenen Mundwinkeln, dem Knubbelkinn und den aufgeblasenen Hamsterwangen. »So ist es aber nun mal«, sagte sie, die Augen verdreht und einen Flunsch ziehend.
    »Komm, zieh das Kostüm von neulich an. Mach dich zurecht. Das muß gefeiert werden.«
    »Jetzt schon? Es ist noch nicht mal zwölf.«
    »Wir kaufen erst mal die Aussteuer ein. Keine Zeit zu verlieren.«
    In einem Möbelgeschäft an der Rozengracht schenkte ich ihr an diesem Mittag den modernen Ausziehtisch, der ihr schon früher ins Auge gestochen war. Er kostete ein Vermögen, aber über Geld machte ich mir an dem Tag keine Gedanken mehr. Das zentrale Möbelstück im Wohnzimmer sollte uns immer an diesen Tag erinnern. Ausgezogen, bot der Tisch zehn Personen Platz.
    »Der Test hat nichts über Achtlinge gesagt«, meinte Mirjam.
    »Ich will auf alles vorbereitet sein.«
    Im De Zwart rief ich meinen Bruder an, der ziemlich verhalten reagierte. »Wartest du nicht besser drei Monate«, sagte er, »bevor du es allen erzählst? Da kann noch alles mögliche schiefgehen.«
    »Du bist nicht alle. Aber danke für den Hinweis. Ich werde die Neuigkeit vorerst für mich behalten.«
    Drinnen saß Mirjam bei einem Glas Apfelsaft. »Ich trinke nachher ein Glas Wein zum Essen. Nur heute noch. Und … was hat Frans gesagt?«
    »Er meint, wir sollen es drei Monate lang geheimhalten. Bis die Gefahr einer Fehlgeburt vorbei ist.«
    »Der kann mich mal. Ich posaune es überall heraus.«
    Weil meine Aufgabe erfüllt war, brauchte ich mein Blut nicht länger frei von Alkohol zu halten. Von jetzt an durfte ich wieder trinken, was ich wollte, und das tat ich.

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