Tonio
Wohnzimmer.
3
Ich saß oben, im dritten Stock, in meinem Arbeitszimmer, um meine Vorlesungen vorzubereiten, während Tonio eine Etage tiefer sein Zimmer ausräumte – das Zimmer, das wir erst ein paar Jahre zuvor, viel zu spät, für ihn hatten umbauen und neu einrichten lassen. Durch Decke und Fußboden drang plötzlich ein beunruhigender Lärm von fallenden Gegenständen. Ich rannte die Treppe hinunter.
In dem bereits weitgehend geleerten Zimmer stand Tonio und stemmte sich verzweifelt gegen eine Reihe miteinander verbundener Wandschränkchen, damit sie nicht ganz herunterfielen: Die Dübel hatten sich gelöst.
»Ich bin wieder zu doof«, ächzte er. Ich half ihm unter Aufbietung meiner ganzen eigenen Ungeschicklichkeit. Als die Gefahr gebannt war, ging ich, anstatt mit ihm zusammen die Arbeit zu Ende zu bringen, an meinen Schreibtisch zurück. Ich versprach ihm, halbherzig, mir nach seinem Umzug die neue Wohnung anzusehen.
Fast zwanzig Jahre lang hatten wir mit Tonio unter einem Dach gewohnt, davon die letzten sechzehn in diesem Haus. Ganz normal, daß er jetzt, zwei Jahre nach dem Abitur, dieelterliche Wohnung verließ, um in den eigenen vier Wänden zu wohnen – so normal, daß das Drama, das es auch war, mir weitgehend entging.
Gerade in den gut zwei Jahren, die er in De Baarsjes wohnte, bildete ich mir ein, besonders viel Aufgaben erledigen zu müssen. Ein neues Buch war erschienen, und ich nahm wieder Lesungen an. Und nicht allein das: auch eine wöchentliche Kolumne, die Gastdozentur, der Auftrag zu einem Essay … ganz abgesehen von den noch nicht abgeschlossenen Arbeiten. Nach seinem Urlaub auf Ibiza im Sommer 2009 holten wir ihn mit dem Auto von Schiphol ab. Wir setzten ihn in der Nepveustraat vor der Tür ab: das einzige Mal, daß ich sein Haus sah, und das nur von außen. Er bat uns übrigens auch nicht hinein. Es war klar, daß er darauf brannte, Jim von seinen Abenteuern zu berichten. Die kleinen Britinnen, von denen er uns flüchtig im Auto erzählt hatte. Er war beinahe aus dem Hotel geflogen, weil er sie, ohne daß sie sich eincheckten, in seinem Zimmer hatte übernachten lassen …
Seine Tasche mit der schmutzigen Wäsche ließ er im Auto. »Ich hol sie dann am Sonntag ab.«
Einen Brief habe ich ihm auch nie an seine neue Adresse geschrieben. In den Jahren davor, ja, wenn ich im Château St. Gerlach arbeitete, schickte ich ihm gelegentlich einen kurzen Aufmunterungsbrief vor Prüfungen. Wenn ich schon so darauf erpicht war, mit »ollem Kram« zu arbeiten und nicht mit Computern und E-Mails, warum hatte ich ihm dann nicht einmal einen altmodischen Brief geschrieben, mit der Hand, und per Post geschickt?
Mein Verleger fragte mich vor einiger Zeit, vielleicht nicht ganz uneigennützig, wie viele Briefe ich in den zurückliegenden vierzig Jahren geschrieben hätte. Ich schätzte, zehntausend. Kurze und lange, getippte und handgeschriebene, persönliche und geschäftliche. Auch während der beiden Jahre, die Tonio im Stadtteil De Baarsjes wohnte, waren esden Kopien in meinem Archiv zufolge bestimmt vierhundert gewesen – und kein einziger an ihn.
Es mußte noch nicht zu spät sein. Wenn Tonio den Unfall und die Operation überlebte, würde ich ihm während der Genesungszeit jeden Tag schreiben. Anfangs, falls sein Gehirn noch nicht ganz wiederhergestellt war, einfache Briefe, die eine Schwester ihm vorlesen konnte. Mit der Zeit immer ausführlichere. Und wenn er wieder auf den Beinen war, würde ich nie mehr damit aufhören – selbst wenn er nicht antwortete.
4
»Wir verlieren ihn, Adri«, hörte ich eine hohe, singende Stimme neben mir. »Ich spür es … ich spür es.«
Wann hatte ich Tonio das letzte Mal gesehen und gesprochen? In der vergangenen Woche, zweimal kurz hintereinander, was seit seinem Auszug ungewöhnlich war.
Am Mittwoch hatte ich bis vier Uhr gearbeitet. Ich ging nach unten, denn ich wollte auf der Veranda noch etwas Sonne genießen: Nach einer kühlen ersten Maihälfte war es seit gestern schön. In der Bibliothek standen die Türen zur Terrasse offen. Ich erkannte die Stimme Mirjams, die mit jemandem sprach, doch weil die sich im Zugwind bewegenden Gardinen zugezogen waren, konnte ich nicht sehen, mit wem. Ich trat auf die Veranda. Da saß Tonio. Entspannter und selbstsicherer, als ich es gewöhnt war. Als er mich sah, trat ein leicht spöttisches Grinsen auf sein Gesicht.
»Bist du schon bei zehn Seiten pro Tag?« fragte er.
Nach einem übermütigen Glas
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