Tonio
Entwicklung ihres Lungenemphysems meinem Vater nicht zuviel Vorsprung zu lassen.Bei jedem Hustenanfall verengten sich ihre Augen zu kleinen Strichen in einem pfingstrosenroten Gesicht.
Ich wollte mir nicht eingestehen, daß auch in unserer kleinen Familie gelegentlich unverhohlener Neid herrschen konnte. Die zweihundertfünfzig Quadratmeter große Wohnung … diese Hochzeit … ein Kind unterwegs … Es ging uns zu gut, und damit hatten sie sogar recht.
Die Schwangerschaft verlief völlig problemlos, und das Kind war vorher sogar noch zu einem ehelichen geworden. Nichts stand seinem Kommen mehr im Weg, nicht einmal meine Ängste. Ich hatte Angst vor dem, was ich gleichzeitig liebte: die Wehrlosigkeit eines Kindes.
Die Verantwortung, die ich so gefürchtet hatte, wurde immer konkreter. Die Geburt war für die erste Juliwoche errechnet worden. Ich zählte mit zitternden Fingern die Tage.
2
»Was ist heutzutage eigentlich mit den jungen Leuten los?« fragte ich mich im Beisein von Altersgenossen immer häufiger. »Sind sie nicht mehr böse oder so? Tonio ist achtzehn, hat sein Abitur, studiert … aber wohnt immer noch bei seinen Eltern. In seinem alten Kinderzimmer. Insgeheim ist es uns ja ganz recht, daß er sich mit dem Flüggewerden Zeit läßt … aber für ihn selbst …«
Eltern in derselben Situation, die soziologisch beschlagener waren als ich, sagten dann: »Es gibt keine Kluft mehr zwischen den Generationen, daran liegt es. Ja, es gibt sie noch, aber sie klafft nicht mehr. Der Unterschied zwischen den Generationen führt nicht mehr zu unüberwindbaren Konflikten. Man kann über alles reden. Alles läßt sich lösen. Warum sollte man Reißaus vor einem Vater nehmen, der dich nicht umbringen will und du ihn auch nicht? Wann hast du zum letztenmal Krach mit Tonio gehabt?«
Eigentlich nie. Unser einziger Streit, der sich auch nichtrichtig entwickeln wollte, stand uns da noch bevor. Von Kindesbeinen an und bestimmt bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er jeden Tag am späten Nachmittag gefragt: »Hast du gut gearbeitet?« (Wie er auch immer am Ende einer Mahlzeit fragte: »Darf ich den Tisch verlassen?« Dabei senkte er die Stimme um eine Oktave, als wolle er das Erwachsensein vortäuschen, das zu der leicht affektierten Frage gehörte. Er mußte diese Höflichkeitsfloskel irgendwo aufgeschnappt und übernommen haben, denn wir hatten sie ihm nicht beigebracht.) Mit so einem Jungen bekommt man keinen Streit, selbst wenn man es wollte.
Knapp zwei Jahre nach seinem Abitur konnte er zusammen mit seinem Busenfreund Jim eine Wohnung im Stadtteil De Baarsjes als Untermieter beziehen. Auf eigenen Beinen: Mit einemmal war das verlockender als die Rundumversorgung zu Hause. Das war im April 2008. Ich konnte ihm nicht einmal beim Umzug helfen, da ich mitten in einer Reihe von Gastvorlesungen an der TU Delft steckte. Ich erinnere mich aber noch an die gemeinen Stiche in der Herzgegend: Jetzt verließ er uns doch. Ich fühlte mich irgendwie übergangen, so daß selbst eine fehlende Generationskluft ihren Tribut forderte. Na schön, wenn er sein großes, mit allen Annehmlichkeiten ausgestattetes Zimmer in der Johannes Verhulststraat unbedingt gegen eine muffige halbe Wohnung in Amsterdam-West eintauschen wollte: prima. Tschüs, mein Junge, und steh bloß nicht irgendwann mit hängenden Ohren bei uns auf der Matte.
Sein erstes Jahr an der Amsterdamer Fotoakademie hatte er abgeschlossen, aber er wollte doch lieber an die Abteilung Fotografie der Königlichen Kunstakademie in Den Haag. Als er in den Stadtteil De Baarsjes zog, hatte er auch dieses zweite Studium schon wieder abgebrochen, nach Gemaule über unerwartete »Veränderungen«. Ich zitierte ihn also zu mir und las ihm die Leviten wegen seines erschreckenden Mangels an Ehrgeiz. Wie bereits gesagt, auch aus diesem Zusammenstoß wurde nichts. Er schwor mir, er platze nur so vor Ehrgeiz, wolle aber lieber nach dem kommenden Sommer ein richtiges Universitätsstudium anfangen. Bis dahin würde er sich einen Job suchen, um für seinen Lebensunterhalt aufzukommen – na ja, zumindest zu einem Teil. Wenn wir solange die Miete weiterbezahlten …
Er fand Arbeit bei Dixons in der Kinkerstraat, einem Geschäft für Computerzubehör und Fotografiebedarf. Wir sahen ihn nur noch selten. Wenn er uns besuchte, dann meist sonntags abends, da aßen wir surinamisch. Manchmal tat er vorher kund, ob er bei uns essen würde, häufiger jedoch stand er unerwartet im
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