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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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um das Kiesbeet.
     
    TONIO
    ROTENSTREICH
    VAN DER HEIJDEN
    15. JUNI 1988 ‧ 23. MAI 2010
     
    Erst jetzt, als ich mit eigenen Augen sah, daß der Bindestrich in der Gravur fehlte, war ich beruhigt. Ich legte die Hand auf den Arm meines Schwiegervaters. »Na, Natan, macht sich dein Name nicht gut darauf?«
    Sein betrübtes Gesicht verzog sich zu einem unsicheren Lachen. Ich war nicht ganz sicher, ob die Feuchtigkeit auf den rosa Halbmonden seiner unteren Augenlider nur von den Windstößen zwischen den Hecken stammte.
    »Ja, gut«, sagte er leise. »Sehr gut.«
    Er hatte einen langen Weg hinter sich. Drei Nationalitäten hatte er, noch bevor er sich von der Stelle gerührt hatte, um wirklich die Reise durch Europa zu unternehmen. 1912 in der ehemaligen Donaumonarchie geboren, wurde er nach dem Ersten Weltkrieg Pole. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt ‘39, als Natans Teil der Ukraine (Lemberg) der Sowjetunion zufiel, mußte er als Russe zu den Waffen in der Roten Armee. Dort begann sein langer Marsch in die Niederlande und schließlich zu diesem Friedhof in Buitenveldert. In der Roten Armee fungierte er als Dolmetscher: Er beherrschte seine Sprachen, auch Russisch. Er half, Berlin zu zerbomben, und kehrte nach der deutschen Kapitulation nach Polen zurück – nur um festzustellen, daß der Judenhaß dort nach der Besatzung noch rabiater geworden war. Er meldete sich als Betreuer jüdischer Kriegswaisen, von denen einige Hundert in die Niederlande begleitet werden mußten, wo sie in Pflegefamilien untergebracht werden sollten.
    In den Niederlanden lernte er Wies kennen, eine jüdische Krankenschwester, die während des Krieges bei einer Gärtnerfamilie in Sint Pancras versteckt worden war, wo sie regelmäßig viele Stunden in einem Erdloch verbringen mußte. Sie heirateten und bekamen in den fünfziger Jahren zwei Töchter.
    Ich habe nie herausgefunden, wie Natan zu diesem falschen Geburtsjahr (1916) in seinem Paß gekommen ist. War bei seiner Ankunft in den Niederlanden ein Fehler gemacht worden, wodurch sein Alter um vier Jahre gesenkt wurde, oder hatte er dieser mangelnden Sorgfalt selbst Vorschub geleistet, um so leichter eine Aufenthaltserlaubnis zu ergattern? Auch vor seiner Frau und den Kindern hielt er als Geburtsjahr an 1916 fest.
    Bei ihrem Geburtstagsfest 1979 brach Mirjam, als ich sie nach dem Alter ihres Vaters fragte, in Tränen aus.
    »Er wird im nächsten Monat schon dreiundsechzig. Er wird wohl nicht mehr lange leben.«
    Sie, gerade zwanzig geworden, schien sich für »so einen alten Vater« ein wenig zu schämen, fürchtete aber vor allem, ihn aus Altersgründen zu verlieren. Mitte der neunziger Jahre enthüllte Natan, als seine Frau ihn bereits verlassen hatte, daß sein Geburtsjahr nicht 1916, sondern 1912 sei, wodurch wir auf einmal gezwungen wurden, zu seinen vor kurzem erreichten achtzig Jahren weitere vier hinzuzuzählen. Das traf seine Töchter hart. Auf einmal hatten sie einen Vater von »weit in den Achtzigern«. Wie um zu beweisen, daß es nicht so kommen mußte wie befürchtet, hatte er es mittlerweile auf siebenundneunzig Jahre gebracht. Er lebte allein und sorgte gut für sich. Vier Tage die Woche, montags bis einschließlich donnerstags, brachte Mirjam ihn mit dem Auto in den Speisesaal des Beth Shalom, wo sie ihn eineinhalb Stunden später wieder abholte.
    Der tragische Nachteil seines hohen, gesegneten Alters war, daß er, der einzige Überlebende seiner Familie (Eltern und Schwestern wurden von den Nazis ermordet), noch miterleben mußte, daß er seinen einzigen Enkel überlebte. Natan war rund ein dreiviertel Jahrhundert älter als Tonio. Bei Natans Geburt war das Jahrhundert gerade mal zwölfJahre alt, bei Tonios Geburt fehlten noch zwölf Jahre bis zu seinem Ende. Zwischen diesen beiden Geburten lagen drei Weltkriege, zwei heiße und ein kalter, und alle anderen Übel des zwanzigsten Jahrhunderts. Es sagt vielleicht etwas über meine Entschlossenheit, daß ich diesen Namen erst jetzt, rund zweiundzwanzig Jahre nach meinem Besuch im Amsterdamer Einwohnermeldeamt, mit dem Namen seines einzigen Enkels verbunden hatte – auf dessen Grabstein.
    Bei aller Freundlichkeit war Natan ein unerforschlicher Mann. Ich konnte nicht ergründen, was er wirklich davon hielt, seinen Nachnamen in einer so unbehaglichen Position, zwischen »Tonio« und »van der Heijden«, auf dem Stein zu sehen. Vielleicht machten wir damit ja etwas Illegales. Rotenstreich war nicht als zweiter Vorname registriert und

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