Tonio
Papiere.
Die Ereignisse der zurückliegenden sieben Wochen waren bis auf einen in passivem Kummer ertrunkenen Tag hier und da minuziös im Telegrammstil festgehalten: Material, das als Grundierung für das Requiem dienen konnte. Wie aber damit wirklich beginnen? Sollte ich ihm, gerade wegen der Kapricen des tatsächlich Geschehenen, eine strenge Struktur geben? Oder durfte ich mich auf den chaotischen Strudel der Gefühle und Erfahrungen berufen, in den wir hineingesogen wurden, so daß auch der Bericht von unserer Trauer in alle Richtungen schlingern konnte?
Mein Herz war wie ein Nadelkissen, so viele kurze Stiche spürte ich, wenn ich an unsere Mission am Nachmittag dachte. Es war so ähnlich wie die needles and pins , die man in einem eingeschlafenen Fuß spüren konnte, nun aber in der Herzgegend.
Um halb zwei traf Hinde auf dem Fahrrad ein. Sie sollte mit uns im Auto fahren, zog es jedoch auf einmal vor, nach Buitenveldert zu radeln. Mirjam und ich fuhren in die Lomanstraat. Natans Arm erschien langsam winkend über den halben Scheibengardinen zum Zeichen, daß er uns gesehen hatte. Es würde noch eine ganze Weile dauern, wie wir wußten, bis die Haustür aufging.
Siebenundneunzig. Er war alt und zusammengeschrumpft. Sein freundliches Gesicht sah sehr blaß aus, mit feuchten rosa Halbmonden unter den Augen. Ich half ihm über die Straße, mit kleinen Schritten wie er, um mich seinem Tempo anzupassen. In den zurückliegenden zwei Monaten war er um Jahre gealtert. Deutlich über hundert war er jetzt.
12
Wir trafen gleichzeitig mit Hinde auf dem Friedhof ein. Meine Schwester wartete auf einer Bank hinter dem Tor, einen Blumenstrauß auf dem Schoß, kurzatmig allein schon vom Sitzen. Sie trug noch immer eine Perücke, weil ihre Haare durch die Chemo ausgefallen waren. Sie hatte eine kleine Wunde am Kinn, die blutete. Ich umarmte sie.
»Gefallen … gestoßen?«
»Ich wollte mir ein Härchen auszupfen«, sagte sie, »und da ist mir die Pinzette ausgerutscht.«
Ich mußte fast lachen, so war sie. Ein Motto, das ihr Leben perfekt zusammenfaßte: ein Härchen aus dem Kinn zupfen und dann das Gesicht mit einer ausrutschenden Pinzette verletzen. Ich erkundigte mich nach der Therapie.
»Na ja, ich bin so ungefähr austherapiert.«
Ich erschrak, aber sie meinte damit, sie habe die Chemo jetzt »so ungefähr« hinter sich. »Der Tumor ist noch da, aber er ist zur Ruhe gekommen. Ja, am liebsten wäre ich ihn ganz los, aber sie sagen, das kann noch drei Jahre dauern. Neulich habe ich auch noch eine Lungenentzündung bekommen. Deswegen kriege ich jetzt so schlecht Luft. Ich habe nur noch fünfzig Prozent der normalen Lungenkapazität.«
»Hängt das nicht eher mit dem Emphysem zusammen?« Wieder ertappte ich mich dabei, daß ich mir über Toniosheimliches Rauchen Sorgen machte – bis in meinem Kopf so etwas wie ein Röntgenfoto seiner verwüsteten Lungen erschien.
»Ja, auch.«
Da erschienen Frans und Mariska mit ihrem kleinen Sohn Daniël, jetzt sechzehn Monate alt. Sie waren mit der Straßenbahn gekommen oder mit einer Kombination aus Bus und Straßenbahn. Wir standen alle um Daniëls Buggy herum, bis das arme Kerlchen wegen der übergroßen Aufmerksamkeit zu weinen begann. (»So groß geworden.«)
Wir gingen zusammen zum Grab, langsam, Natan bestimmte das Tempo. Und wieder zeigte Buitenveldert sich als bescheidenes Labyrinth, in dem man stets den falschen Weg einschlug. Alles war noch naß von dem Gewitterguß um die Mittagszeit, doch der Friedhof hatte sich nicht in eine Schlammfläche verwandelt. Es war auch nicht so, daß jetzt alles bereits ausdorrte, denn die Sonne hielt sich hinter tiefhängenden Wolken verborgen. An den Hecken funkelten Regentropfen, doch die Kaninchen tummelten sich schon wieder darunter.
Meist verirrten wir uns, weil Mirjam sich unbedingt auf den Plan verlassen wollte. Heute trottete jeder irgendwie hinter den anderen her, dabei ungefähr dem Weg folgend, an den wir uns von der Beerdigung erinnerten.
Wir näherten uns dem Grab schließlich von zwei Seiten, in zwei Gruppen: Natan, umringt von den Frauen, hatte einen früheren Durchgang in der Hecke benutzt als Frans und ich, und trotzdem kamen wir alle gleichzeitig bei dem neuen Stein an. Frans schob den leeren Buggy vor sich her (Daniël hing in den Armen seiner Mutter) und stellte ihn an einem anderen Grab ab. An Tonios Grab war noch das alte, provisorische Schild, das auch die Nummer trug: 1-376-B. Wir bildeten einen Halbkreis
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