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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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auch nicht als Verdoppelung des Familiennamens, denn dafür war die Zustimmung der Behörden erforderlich, und es kostete eine bestimmte Summe.
13
     
    Der Himmel verdunkelte sich bereits wieder, wie zuvor an diesem Tag, aber er sandte nicht die gleiche Gewitterdrohung aus.
    Es kann am späten Abend geschehen, nach dem Genuß von Alkohol, frühmorgens im Halbschlaf oder infolge plötzlicher Müdigkeit nach einem Arbeitstag: Wenn ich mich in irgendeinem Dämmerzustand befinde, neigt Tonios Rolle in meinem Leben dazu, sich aufzulösen. Er scheint dann nicht mehr voll und ganz mein Sohn zu sein, sondern jemand, der unregelmäßig in meinem Dasein aufgetreten ist … der von Zeit zu Zeit vorbeigeschaut hat … ein etwas unsteter Hausfreund. Je verwirrender der Dämmerzustand, um so stärker sehe ich Tonios Anwesenheit in meiner Vergangenheit schrumpfen.
    Es ist nicht so, daß er weniger wichtig für mich wird, imGegenteil, aber er scheint auf einmal ungreifbarer. Es ist, als hätte ich längst nicht so viel Zeit mit ihm verbracht, wie ich es gern getan hätte. Solche Gedanken treiben mich zur Verzweiflung, denn so wird sein perfekt zusammenhängendes Leben ausgehöhlt.
    Es ist nicht verwunderlich, daß ein solcher Prozeß das Produkt eines erschöpften Gehirns ist. Unbewußt ist es meine Antwort auf Tonios Verschwinden, auf die unbegreifliche Auflösung, die sich in seinem Grab an ihm vollzieht. Irgendwo in der Tiefe meines Geistes möchte ich seine Vergangenheit, so wie sie mit der meinen verschlungen ist, rückwirkend der Auflösung ausgesetzt sehen.
    Arbeitet mein Gehirn erneut auf vollen Touren, dann weiß ich es besser. Tonio füllt mein Leben dann wieder völlig aus: das jetzige und das frühere.
     
    Jetzt nicht an seinen verwesenden Körper dort unter dem Kies denken. Sein beweglicher Leib war hier bei mir, in mir, beseelt und angetrieben von meinem Wissen um jeden Aspekt davon. Seine Motorik saß in meinen Muskeln.
    Gleich gab es vielleicht noch ein Gewitter. Aber ich brauchte nicht, wie Frankenstein, den Blitz, um meinen Jungen zum Leben zu erwecken. Meine Wissenschaft war eine andere als die Frankensteins. Meine Kenntnis Tonios war selbst der lebenbringende Blitzeinschlag.
    Die Töpfe mit den von den Kaninchen angeknabberten Pflanzen standen diesmal auf der Steineinfassung des Grabs. Dazwischen die Bierdose, die ein Freund hier kurz nach der Beerdigung hingestellt hatte, zusammen mit einem Päckchen Zigaretten, nun schwer vom Regen. Ich betrachtete die Unterseite der Dose: noch lange nicht über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus. Ich steckte sie in die Tasche meines Regenmantels, in der Absicht, sie eines Abends in Tonios Namen zu leeren.
14
     
    Der grobe Kies auf Tonios Grab brachte mich zurück an einen kleinen griechischen Kieselstrand auf der Halbinsel Pilion.
    Im Frühjahr ‘95 durfte Tonio mit seiner Oma mütterlicherseits auf den Jahrmarkt am Dam. Er war noch nicht ganz sieben, und die Anweisungen waren klar: keine Autoscooter. Sie aus der Nähe zu beobachten, wie sie zusammenknallten und sich ineinander verkeilten, war nicht verboten, und das tat er, indem er auf dem Randstreifen hin und her rannte, der die Bahn umschloß. Die Knäuel, in denen die Scooter am heftigsten aufeinanderprallten, an die wollte er ganz nah dran. Und so stolperte er irgendwann über den Rand. Er stürzte bös und brach sich das Handgelenk.
    Die erschrockene Großmutter brachte ihn mit dem Taxi in die Ambulanz, wo sein Arm einen Gipsverband bekam – oder, besser gesagt, eine Art Panzer mit Waffelmuster, auf dem sich so schlecht Autogramme sammeln ließen. Uns kam der Unfall sehr ungelegen, waren wir doch, zu Beginn von Tonios Maiferien, gerade im Begriff, nach Griechenland zu fliegen, wo wir zwei Wochen bei meiner deutschen Übersetzerin und ihrem Mann verbringen wollten, in dem kleinen Küstenort Horto. Damit er dort schwimmen konnte, hatte Tonio vom Krankenhaus einen Plastiküberzug mitbekommen, der sich wasserdicht um seinen Oberarm schloß.
    »Ja, diese Autoscooter, Tonio … da weiß man doch schon vorher, was man riskiert«, sagte ich.
    Böse: »Ich durfte ja nicht mal damit fahren.«
    Im Falle großer Empörung verschränkte er immer die Arme vor der Brust, wobei die Handrücken wie Buckel hochstanden – aber das ging jetzt nicht. Als wir in Horto ankamen, hatte er sich bereits mit seinem Handicap abgefunden. Er konnte es gar nicht erwarten, ins Wasser zu gehen. Es war ein rührender Anblick, wie Tonio sich in die

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