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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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blaugrün gefleckte Bucht wagte. Sie war flach, so daß seine Füße, trübe Wölkchen aufwirbelnd, Halt auf dem Grund fanden. Um seiner Fortbewegung den Anschein des Schwimmens zu geben, machte Tonio mit seinem heilen linken Arm auf gut Glück ein paar Kraulschläge, während sich um den eingegipsten rechten Arm die viel zu weite Schutzhülle, mit Luft gefüllt, wie ein Segel blähte.
    Mirjam und ich standen auf dem kleinen Kieselstrand zwischen den Felsen und schauten ihm zu. Der Frühlingswind knitterte die glatte Oberfläche der Bucht wie Silberpapier. Von Zeit zu Zeit richtete sich Tonio im Wasser auf, das ihm bis zur Brust ging, um uns zuzuwinken, worauf er sich wieder in Schwimmhaltung fallen ließ.
    Wenn diese geblähte Hülle mit ihrer unverständlichen Beschriftung so lächerlich war, weshalb griff Mirjam, neben mir, dann nach meiner Hand und drückte sie kurz? Als ich zur Seite schaute, sah ich, daß ihre Wimpern naß waren von der Gischt, die ihr ins Gesicht geweht war – obwohl der Wind äußerst mild war und die Wellen, sofern sie diese Bezeichnung überhaupt verdienten, keinen Schaum trugen. Als ich wieder vor mich schaute, zum ungelenk dahinsegelnden Tonio, verriet die sanfte Brise mir, daß auch mein Gesicht nicht ganz trocken war.
    Bei der Erinnerung daran, wie die Strandkiesel unter unseren Füßen knirschten, hätte ich fast einen Schritt nach vorn getan, über die Steineinfassung von Tonios Grab hinweg, um den frisch aufgeschütteten Kies unter meinen Schuhsohlen zu spüren.
    »Ach ja, stimmt«, sagte Mirjam und ließ den Arm ihres Vaters los, um sich an meine Seite zu stellen. »Der Steinmetz hat angerufen. Als sie die Platte aufgestellt haben, hatten sie nicht genug Kies dabei. Da kommt demnächst noch eine Schicht drüber.«
15
     
    In Horto bewohnten wir einen Bungalow in einer Ferienanlage, in der in dieser ersten Maihälfte, noch außerhalb der Saison, niemand außer uns war. Etwas mehr als einen Steinwurf entfernt hatte Helga, meine Übersetzerin, ein Haus, das ihr Mann Wolfgang, ein Architekt, gebaut hatte. Man hatte von dort oben einen guten Ausblick aufs Meer.
    Außer ihren alten Eltern hatte Helga auch ihre kleine Nichte Inki zu Besuch. Inki und Tonio waren ungefähr im gleichen Alter. Sie sprachen die Sprache des anderen nicht, doch Tonio versuchte dem Mädchen ohne Worte dadurch zu imponieren, daß er immer wieder auf einen der Olivenbäume auf Helgas und Wolfgangs Grundstück kletterte. Wenn man bedachte, daß er nur seinen linken Arm benutzen konnte, entwickelte Tonio eine erstaunliche Schnelligkeit beim Klettern. Nachdem er den höchsten dicken Ast erreicht hatte, spähte er, lässig von Inki wegschauend, zum Meereshorizont, als erwarte er dort ein Schiff.
    Als Tonio starb, waren Helga und Wolfgang in Horto. Noch unter dem Schock der schlimmen Nachricht haben sie Tonio zum Gedenken einen Olivenschößling gepflanzt, nicht weit von dem Baum, auf den er damals immer geklettert war. Per E-Mail erhielten wir ein Farbfoto des jungen Baums. Wenn ich sage, daß wir gerührt waren, ist das vielleicht die beste neutrale Beschreibung dafür, welche Empfindungen von Schmerz, Glück und Verwirrung uns beim Betrachten des Bilds krampfartig durchzuckten. Helga und Wolfgang pflegen den Sproß, und eines Tages hoffen wir wieder reisefähig zu sein, um ihm selbst Wasser zu geben.
16
     
    In der zweiten Woche unseres Aufenthalts fuhren wir eines Tages in Wolfgangs Segelboot aufs Meer hinaus: er und Helga, Mirjam und ich, Inki und Tonio. Delphine schwammen in einiger Entfernung neben dem Boot her, zum großen Entzücken der Kinder. Wie die Tiere, fünf oder sechs an der Zahl, sich geschmeidig gekrümmt über die Wasseroberfläche erhoben und dann wieder, beim Untertauchen, ganze Milchstraßensysteme an silbernen Bläschen im tiefblauen Wasser aufleuchten ließen … Tonio sah, an den Mast gelehnt, hingerissen zu … backbord, steuerbord … wohin als erstes schauen? Ein komplettes, grenzenloses Delphinarium, und wir segelten mitten hindurch.
    Wolfgang, bei komplizierteren Manövern von Helga assistiert, legte an einer kleinen, unbewohnten Insel an, die von einer teilweise eingestürzten Kapelle mit einer nur aus Vögeln bestehenden Gemeinde beherrscht wurde. Ein vergessener Set aus Hitchcocks Film Die Vögel : Sie hausten in jeder Nische, auf jedem Fenstersims und versammelten sich lauthals auf dem Altar. Als wir uns näherten, trippelten sie unruhig, Schulter an Schulter, hin und her, aber sie

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