Tonio
seiner Abwesenheit, hauptsächlich als Schild gedient, der Mirjams Waffe in meine Richtung lenken sollte.
Ich verließ mein Prokrustesbett in Duivelseiland und zog an der Leidsegracht wieder bei Mirjam und Tonio ein – wenngleich ich mich vorerst mit dem Wohnzimmersofa begnügen mußte. Langer Schlaf war mir dort nicht vergönnt, denn Tonio erschien schon frühmorgens, um seinen Platz einzufordern. Manchmal wurde ich allein von seiner Anwesenheit wach. Ich schlug die Augen auf, und da stand er und sah mich ernst an, der fast Vierjährige: Kuscheltiere und Knuddeltücher unter den Armen und zwischen den Lippen einen Schnuller, der sich gleichmäßig und rasend schnell wie ein Motorkolben in seinem Mund vor und zurück bewegte. Erwachte ich nicht unter seinem eindringlichen Blick, so fand er immer etwas, die Ecke eines Sabbeltuchs oder den flauschigen Schwanz seines Äffchens, mit dem er mich unter der Nase kitzelte – so lange, bis ich mich stöhnend aufrichtete und ihm die Hälfte des Sofas abtrat. Gemeinsam sahen wir uns dann auf dem Videorecorder eine Folge der Serie De Grote Meneer Kaktus Show an.
Eigentlich war Our Man In Africa, auch Der Korrespondent Ohne Grenzen genannt, während dieser ganzen unerquicklichen Geschichte der große Abwesende – was nicht verhinderte, daß sein Urlaub immer näher rückte.
»Adri, ich möchte das stilvoll zu Ende bringen«, sagte Mirjam eines Donnerstagsnachmittags. »Wenn du morgen abend losziehst, dann tu mir einen Gefallen und geh dieses eine Mal nicht in dieselben Kneipen und Restaurants wie sonst. Ich fand es an all den Wochenenden während der Kriegszeit toll, wirklich, dir unerwartet im Tartufo, im Schiller oder im De Favoriet zu begegnen. Aber diesmal nicht. Abgemacht?«
Auf Nachfrage stellte sich heraus, daß Our Man nur kurz, etwas länger als eine Woche oder so, im Land bleiben würde, bevor er wieder in die afrikanischen Gebiete zurückflog, deren Grenzen sich zum großen Kummer (oder zur großen Freude) der Verleger von Weltatlanten jeden Moment verschieben konnten. Jetzt, da Mirjam nicht länger gegen ihren Ehemann verliebt war, entfiel die Notwendigkeit der Verliebtheit in den Korrespondenten, und das wollte sie diesem »stilvoll« übermitteln – in Form einer Art Abschiedsessen.
Sicherheitshalber, »ich reserviere aber nirgends«, zählte sie eine ganze Liste von Kneipen und Speiselokalen auf, von denen ich mich am kommenden Freitagabend tunlichst fernzuhalten hätte. »Es ist alles auch so schon peinlich genug.«
Da ich nun die Achillesferse meines Widersachers kannte, kostete es mich wenig Opferbereitschaft, ihn noch ein mal mit meiner Frau ausgehen zu lassen. »Notfalls, Minchen, mach ich mir ‘nen schönen Abend in Haarlem. Oder, wenn dir das noch zu nah ist, in Antwerpen.«
4
Ich erfüllte fast sklavisch Mirjams Bitte (oder Befehl), mich an besagtem Freitagabend nicht in dem Stadtteil blicken zu lassen, in dem sie mit ihrem Sonderberichterstatter ausgehen würde. Mit einem der regular girls , die mir durch die einsamen Monate geholfen hatten, besuchte ich bis tief in die Nacht Kneipen (Brouwersgracht und Umgebung), in die ich sonst nie einen Fuß setzte. Ich kann mich nach all den Jahren nicht mehr erinnern, wer es war, Ilke oder Adriënne oder Bernadette – nur noch, wie beleidigt sie wegen meiner extremen Ausgelassenheit war, weil sie merkte, daß diese nichts mit ihrer Gesellschaft zu tun hatte. Sogar wenn ich ihr in die Augen sah, erblickte ich dahinter eine neue Zukunft.
Verdammt noch mal, diese Mirjam, was für eine Frau: wie sie mich mit ihrer irreführenden Strategie des »Verliebtseins gegen« erschreckend subtil erpreßt hatte, damit ich mich besserte. Kein Rauswurf und kein Mordversuch kam dem auch nur im entferntesten nahe.
Es wurde zwei Uhr, halb drei. Ich saß meine Zeit ab. Nach dem Restaurantbesuch und der Großen Aussprache waren sie vielleicht noch für ein paar abschließende Worte und einen Absacker ins Schiller gegangen, aber angesichts der Umstände hatten sie es sicherlich nicht bis ins De Favoriet oderin irgendeine andere Nachtkneipe geschafft. Mirjam mußte jetzt langsam zu Hause sein.
Ich wußte noch, daß ich Ilke oder Adriënne oder Bernadette bis zu deren Haustür gebracht hatte, wo immer das war. Vage erinnerte ich mich an die Einladung zu einem letzten Schluck – aber nein, vielen Dank, heute nicht, ich geh nach Hause. Ich habe vermutlich nicht dazuerzählt, daß zu Hause, unvorstellbar verbessert, mein
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