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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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das Laken auf meinen Kopf zu. Wie ein kleines Tier auf fünf Beinen. In der Nähe meines Kinns kratzte Mirjam mit dem Zeigefinger an dem hellblauen Stoff, sehr nachdrücklich, als wolle sie mich vor etwas warnen oder mich nicht allzu rabiat wecken, damit mein Schnarchen aufhörte.
    Ich schnarchte in diesem Moment nicht, und Gefahr drohte ebensowenig, soweit ich es überblicken konnte. Die Hand mit den durch übermäßige Pigmentierung schmuddelig wirkenden Fingern zog sich zurück, trippelte aber bald wieder näher und wiederholte das Kratzen auf dem Laken.
    »Minchen …?«
    Ich mußte ihren Namen ein paarmal sagen, bevor als Antwort ein Stöhnen kam, von ganz tief unten. Sie schlief weiter. Nur ihre Hand, die schlich immer wieder auf mein Gesicht zu, um das Kratzen zu wiederholen. Ich wußte nicht, was es bedeutete, doch es hatte mich eigenartig gerührt. Als sie etwas später das Baby stillte und ich ihr die Bewegung ihrer Hand vormachte, wollte sie mir nicht glauben.
    Diese verrückten Angewohnheiten, ich würde nie mehr ihr Zeuge sein dürfen. Ganz zu schweigen von allem Schönen bei Tonio, das mir künftig vorenthalten bliebe. So wie neulich, als er mit erhobenem Zeigefinger gerufen hatte: »Da kommen die Ritter …!«
    Ich stieg die Eingangsstufen wieder hinauf und drückte auf den Klingelknopf. In der nächtlichen Stille hörte ich immer, wie es oben schellte. Jetzt blieb es still. Natürlich, wenn wir ausgingen, stellte Mirjam die Klingel meist ab, damit die Katze nicht erschrak, aber daß das Ding jetzt, wo sie offensichtlich zu Hause war, noch immer abgestellt war, konnte nur bedeuten, ich sollte auf eine weitere Manier ferngehalten werden.
    Ich rief ihren Namen kläglich durch den Briefkastenschlitz, vielleicht mehr zum Abschied als in dem Versuch, sie zu bewegen, mich wieder in Gnaden aufzunehmen. Fast im selben Moment ging im zweiten Stock eine Tür zum Treppenhaus auf, und Füße trommelten die Stufen hinunter.
    Im nachhinein konnte ich den Schluß ziehen, daß mit diesen schnellen Schritten auf der Treppe, mit Mirjams Rennen, alles ausgedrückt wurde: Wir gehörten zueinander und würden beieinander bleiben. Das Getrommel auf den Treppenstufen bedeutete, daß meine Gefühle nicht verletzt werden durften. Sie kam, um mich, außer Atem, von neuem willkommen zu heißen. Alles Schöne würde von vorn beginnen, und sogar eine Stufe höher.
    Sie war fast unten. Ich kniete vor der Tür, die Augen vor der Briefkastenklappe, die ich mit dem Daumen hochhielt.
    »Adri, es ist nicht, was du denkst«, rief sie.
    Es war nicht, was ich dachte. Die Tür flog auf. (Ich wußte nicht, warum, aber ich mußte an das erste Mal denken, als sie mir eine Tür geöffnet hatte. Ich stand bei ihr auf der Matte, eine Flasche Dimple unter dem Arm. »Ich mag keinen Whisky.« »Mevrouw, ich mag keinen Muskateller.«)
    »Dann sag mir erst mal, was ich denke.« (Wenn es alles sein konnte, was ich nicht dachte, reichte es aus, die Hölle zum Schweigen zu bringen.)
    »Ich erzähl‘s dir oben.« In ihrem Gesicht war so viel Verlegenheit, daß ich fast Mitleid mit ihr bekam. »Bleib da nicht stehen.«
    »Ich weiß nicht, was mich oben erwartet.«
    »Ich erklär dir alles.«
    Ihre Ratlosigkeit verkehrte die Rollen grundlegend. Zunächst wollte ich den Beleidigten spielen und weggehen, doch zu guter Letzt folgte ich ihr die Treppe hinauf, fest entschlossen, eine Szene zu machen.
7
     
    Aus der offenen Wohnungstür drangen laute Männerstimmen. Bevor ich hineinging, blieb ich auf dem Treppenflur kurz stehen und lauschte. Ich konnte mich irren, aber meiner Meinung nach drehte sich die Diskussion um Schlösser und Schließvorrichtungen in frühmittelalterlichen Kirchen, kein ausgesprochen afrikanisches Thema.
    Im Wohnzimmer hatte sich etwas verändert, wenngleich ich nicht auf Anhieb hätte sagen können, was. Bei meinem Eintritt verstummte das Gespräch. Mein erklärter Rivale erhob sich sofort vom Sofa oder, besser gesagt: er sprang auf, erschrocken. Ich streckte den Arm aus, um ihm die Hand zu geben, er wandte jedoch ruckartig den Kopf ab, als erwarte er einen Schlag. Zum Glück bemerkte er seinen Irrtum sofort, so daß meine faire Geste nicht ganz ins Leere ging.
    Der lange Mann, den ich bislang nur kurz als chinesischen Schatten kennengelernt hatte, kniete auf dem Teppich vor einer offenen Werkzeugtasche, in der er zu kramen begann, vielleicht um mir nicht die Hand reichen zu müssen.
    »Hast du den Herren etwas zu trinken angeboten?«

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