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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Tonio war verloren.
    Die Chirurgin setzte sich an die Stirnseite des Tischs und sah abwechselnd Mirjam und mich an. Um den Mund einen fast verbissenen Zug, zweifellos von all den im OP unternommenen Anstrengungen. Schließlich blieb ihr ernster, unwillkürlich strenger Blick an mir haften. Die Art und Weise, wie sie atmete, verriet großen Streß. Sie schüttelte den Kopf.
    »Es geht nicht gut«, sagte sie zögernd, um gleich darauf hinzuzufügen: »Es ist nicht geglückt.«
    Aus Mirjam brach ein Strom beinahe melodischen Geheuls. Ihr Kopf sank, hin und her schwankend, immer weiter nach unten, als wollte sie ihn buchstäblich in ihren Schoß legen. Einen Arm um ihre Schulter geschlungen, drückte ich sie an mich. Ihr Beben mischte sich mit meinem.
    »Das Gehirn war schwer traumatisiert«, fuhr die Chirurgin fort. »Es schwoll immer weiter an. Erst rechts, dann auch links. Außerdem fielen verschiedene Funktionen aus. Der Blutdruck sank drastisch … die Blutgerinnung war erbärmlich … Er war nicht zu retten. Wir haben die Behandlungeinstellen müssen. Er wird jetzt auf die Intensivstation gebracht, damit Sie Abschied von ihm nehmen können. Er liegt noch an der Beatmung, aber die wird gleich abgestellt.«
    Aufgegeben, aber noch nicht tot.
    »Seien Sie versichert«, sagte ich mit brüchiger Stimme, »daß wir Ihre Bemühungen sehr zu würdigen wissen.«
    Sogar ich war mir jetzt, obwohl ich sie nicht selbst roch, meiner penetranten Knoblauchfahne bewußt. Mir wurde der baldige Tod meines Sohnes verkündet, man würde ihm gleich den Atem abschneiden, und meine Gedanken verweilten bei meinem eigenen, verunreinigten Atem. Aglio olio .
    Die Ärztin erhob sich und gab uns beiden die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Kraft.«
    Ich blinzelte und spürte an meinen Wimpern und Lidern eine kalte Feuchtigkeit, als wären da alte, vergessene Tränen, vor langer Zeit abgekühlt. Zusammen mit einer der Frauen verließ die Neurochirurgin den Raum. Die dritte Ärztin wandte sich mit den Worten an uns: »Er ist jetzt vielleicht noch im Aufzug auf dem Weg hierher. Eine Schwester sagt Ihnen Bescheid, wenn Sie zu ihm dürfen. Sie nehmen am besten von ihm Abschied, solange er noch beatmet wird. Erschrecken Sie nicht über seinen Oberkörper, der ist stark angeschwollen. Von den inneren Blutungen.«
    Ich mußte die Zeit in die Länge ziehen. Ich mußte sein Leben in die Länge ziehen.
    »Ihr stellt die Behandlung ein«, wiederholte ich die Worte der verschwundenen Chirurgin.
    Die Frau nickte. »Die Behandlung fortzusetzen wäre medizinisch sinnlos … und unverantwortlich.«
    Ich mußte an mich halten. Ich durfte mich nicht gegen diese medizinische Entscheidung auflehnen. (Eine Entscheidung, die bereits unwiderruflich durch die Stärke des Aufpralls, durch das Schicksal, dem man die Augen verbunden hatte, getroffen war.) Es ging hier nicht um Euthanasie. Ich mußte mich hüten, die Beherrschung zu verlieren und zuverlangen, daß die Behandlung fortgesetzt würde. Die Geschichten waren bekannt. Familienmitglieder, künftige Hinterbliebene, mit geballten Fäusten vor dem Arzt, das Bett mit dem geliebten Angehörigen durch eine Menschenkette gegen die Schwester abschirmend, die den Auftrag hatte, die künstliche Beatmung auszuschalten.
    Ich nickte meinerseits. Die Ärztin lächelte traurig und verließ den Raum. Ich mußte mir den vergeblichen Gedanken an einen Tonio, der noch zu retten sein könnte, aus dem Kopf schlagen und mich voll und ganz Mirjam zuwenden und ihr Mut machen, damit sie Abschied von ihrem soeben aufgegebenen Sohn nehmen konnte. Sie saß noch immer mit gekrümmtem Rücken da und weinte. Nicht mit voller Kraft, und gerade das war das Herzzerreißende: daß etwas Stilles und Bescheidenes von ihrem Kummer ausging. Sogar jetzt.
    »Komm, Minchen.« Ich drückte sanft ihren Oberarm. »Wir müssen uns auf den Abschied vorbereiten. Sie können uns jeden Moment holen.«
    Mirjam schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
    »Denk an den Abend vor zwei Wochen, in der Staalstraat«, sagte ich. »Wir hatten es so gut zusammen. So eng zu dritt. Denk ganz intensiv daran, wenn wir gleich zu ihm gehen. Dieser Abend, das war der wahre Abschied. Ohne daß wir es wußten.«
13
     
    Es wird wohl nicht Tonios Idee gewesen sein, aber in seiner Studiengruppe war der Plan entstanden, einmal zusammen mit allen Eltern etwas trinken und anschließend essen zu gehen. Dafür war der siebte Mai festgelegt worden, ein Freitagabend. Tonio hatte Mirjam die

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