Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
Vom Netzwerk:
Natürlich hatten sie in den falschen Lokalen gesucht.
    So war also, ohne einen Bissen, das Abschiedsessen verlaufen. »Als hätte es so sein müssen.«
9
     
    Mirjam brachte ihren Sonderberichterstatter an die Tür – zum letztenmal, wollten wir hoffen. Ich lauschte oben an der Treppe. Ein kurzes, unverständliches Gespräch auf der Schwelle unten. Ganz kurz ihr fröhlich-spöttisches Lachen.
    Die Tür fiel ins Schloß. Das konnte zweierlei bedeuten: daß sie über die Schwelle getreten war, um dem Korrespondenten Ohne Grenzen bis an die Ränder der Welt zu folgen, oder …
    Ich stand wieder zwischen den Umzugskartons, deren muffiger Kellergeruch meine Bronchien reizte, und spitzte die Ohren. Es blieb still, im Treppenhaus wie draußen auf der Straße.
    »Was stehst du denn da zwischen den Kartons, du Faulpelz?« Mirjam hatte ihre Pumps in der Hand. Sie mußte auf Strümpfen nach oben geschlichen sein. »Pack sie lieber aus, wenn sie dich ärgern.«
    »Was habt ihr verabredet?«
    »Daß wir nichts mehr verabreden. Es war eine unmögliche Situation, das hat sich heute abend ja wieder gezeigt. Ich dachte, wir hätten etwas miteinander … du und ich …«
    »Das hör ich zum erstenmal.«
    »Na, dann komm doch mal her.«
    Wir standen eine Weile schweigend aneinandergeschmiegt. Dann sagte sie: »Ich hatte Angst, du würdest wegen der gestohlenen Tasche böse sein … wegen der Schlüssel … wegen des Schlüsseldiensts … aber du meckerst über diese blöden Umzugskartons. Typisch!«
    »Lern, damit zu leben.«
    »Es bleibt mir nichts anderes übrig.«
10
     
    Für Mirjam waren die Umzugskartons halbleer. Für mich halbvoll. So sah es um unser neues Einvernehmen nach der ersten großen Ehekrise aus.
    Halbleer: Der Rest der Bücher muß noch in den Schrank.
    Halbvoll: Es gab in den Kartons noch Platz für die Bücher aus dem Schrank.
    Waren es die ausgetauschten Schlösser in Verbindung mit den wiederaufgetauchten Umzugskartons, die mich auf die Idee einer größeren Wohnung brachten? Ich mußte michallerdings erst mal eingehend befragen, ob die Suche nach einem neuen Haus die richtige Methode war, meine kleine Familie endgültig zurückzugewinnen. De Pijp, Kloov, Obrecht, Veluwe, Pauwhof, Leidsegracht … alle diese Umzüge hatten lediglich zu der schleichenden Entfremdung zwischen uns beigetragen.
    Im Huize Oldehoeck, ja, da war sie, bis zu Tonios erstem Geburtstag, glücklich gewesen. Das war die Gegend, in der sie ihre früheste Kindheit verbracht hatte. Schräg gegenüber war sie geboren, in der CIZ , der Zentralen Israelitischen Krankenanstalt – mittlerweile eine Jellinekklinik für Suchtkranke. Ihre Heimat. Wenn ich ein Haus für sie kaufen wollte, mußte es dort stehen und nirgendwo sonst.
11
     
    »Da kommen die Ritter.«
    Ein Freund hatte mir eine CD mit der elften Sinfonie von Schostakowitsch geschenkt. Ich hörte sie mir an jenem Nachmittag zum erstenmal an, während Tonio in einer Ecke des Zimmers mit seinen Legosteinen spielte. Ich hatte noch nie ein Kind erlebt, das so in seinem Spiel aufgehen konnte. Der Welt vollkommen entrückt, wie man so sagt.
    Irgendwo im mittleren Teil der Sinfonie verstummt die Musik fast vollständig, worauf laut und trocken und klar ein Wirbel auf der Snaredrum ertönt, und dann noch einer – immer lauter und lauter. Tonio sprang auf, zog den Schnuller aus dem Mund und rief mit ausgestrecktem Arm: »Da kommen die Ritter …!«
    Keine Ahnung, welches Märchen sein intensives Spiel durchkreuzt hatte, doch er blieb mit überraschter Miene, einen Sabberfaden an der Unterlippe, stehen und hörte zu, bis die Snaredrum von anderen Instrumenten vollständig überflutet worden war. Er drückte sich den Schnuller wieder zwischen die Lippen und warf sich erneut auf die Knie vor demLego-Berg. Ich setzte mich neben ihn und fragte: »Was war das … was hast du da gehört, Tonio?«
    Seine Bausteine nahmen ihn schon wieder ganz in Beschlag. »Das waren die Ritter«, sagte er leise, jetzt abwesend. Und wie in einer Art gleichgültiger Trance wiederholte er, immer leiser, ein ums andere Mal: »Das waren die Ritter … die Ritter …«
12
     
    Zehn vor fünf. Die Neurochirurgin kam als erste herein. Sie hatte ihre hellblaue Duschkappe noch auf: Das Gummiband war hochgekrochen, wodurch sie jeden Augenblick vom Haar rutschen und zu Boden segeln konnte. Die letzte ihrer beiden Begleiterinnen schloß die Tür, die den ganzen Tag offengestanden hatte, hinter sich – und dadurch wußte ich es.

Weitere Kostenlose Bücher