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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Einladung gemailt mit dem Zusatz: »Ich weiß nicht, ob das was für euch ist …«
    Er wußte, daß wir seit einem Jahr alle Geselligkeit außer Hause mieden. »Aber es geht um Tonio«, sagte Mirjam. »Soviel Gelegenheit gibt es nicht, ein bißchen Interesse für sein Studium zu zeigen.«
    »Gut, wir melden uns an.«
    Der siebte Mai war ein kühler Tag, an dem bekannt wurde, daß der Mann, der Andrea Luten erwürgt hatte, gefunden worden war, daß der Tod der Turkish-Airways-Piloten bei Schiphol auf deren eigenes Versagen zurückzuführen war und daß der »Dam-Schreier« sich für die Lärmbelästigung entschuldigt hatte. Wie um noch einmal zu betonen, daß es eine Woche voller Störsender war, hingen den ganzen Nachmittag über zwei Hubschrauber in der Luft, einer von der Polizei und einer vom Rundfunk – und zwar im Zusammenhang mit dem Giro d‘Italia, der hier startete, weil Amsterdam seinen Ruf als »düsteres Festzelt«, wie Gerard Reve seine Geburtsstadt einmal charakterisiert hatte, um jeden Preis bestätigen mußte. Abgelenkt durch das pulsierende Rotieren beschloß ich, den siebten Mai nicht als vollwertigen Arbeitstag zu betrachten. Nachher ein Glas mit Tonio trinken. Auf dem Weg ins Badezimmer, wo ich mich rasieren wollte, landete ich im Bett für ein Nickerchen.
    Währenddessen spielte sich an der Haustür ein kleines Drama ab. Meine Schwiegermutter hatte in einer spontanen Anwandlung oder »in überspanntem Zustand«, wie Polizeiberichte es nannten, ihr Heim Sint Vitus verlassen und war im Taxi bei uns vorgefahren. Sie kam, um Mirjam für sich zu reklamieren – aus welchem Grund, das blieb unklar, aber so ging es nicht weiter. Ich wußte, daß der Umgang zwischen Mutter und Tochter schon seit Monaten strengen Regeln unterlag, versuchte aber, mich so wenig wie möglich einzumischen.
    Mirjam weckte mich, um mir den Hausfriedensbruch zu melden. Ihre Heftigkeit war besorgniserregend: Seit einem Jahr kam immer mehr Unschönes aus ihrer Jugend an die Oberfläche. Ich wurde nicht ganz schlau daraus.
    »Was hast du mit ihr gemacht?«
    »Sie wieder ins Taxi gesetzt. Ich war wütend. Genau in dem Moment kam Thomas.« (Sie meinte meinen Lektor.) »Was der sich wohl gedacht hat. Steh ich fast schreiend da und schubse meine Mutter in ein Taxi. Er hat diesen Umschlag für dich gebracht.« Und gespielt bedripst: »Die Blumen, die er dabeihatte, waren auch nicht für mich.«
    Sie bestand so ungefähr darauf, daß ich, bevor wir uns auf den Weg zu Tonio machten, einen Schnaps mit ihr trank, damit sie sich beruhigen konnte.
    »Sonst übersteh ich den Abend nicht.«
    Ich rasierte mich schnell, wir genehmigten uns rasch ein Glas, und dann wurde es Zeit, ein Taxi zu bestellen. Das Essen sollte im Atrium auf dem Binnengasthuis-Gelände stattfinden. Zuvor Sammeln im dortigen Kellercafé. Das Taxi wurde von den Giro-Vorbereitungen nicht behindert, so daß wir reichlich vor der vereinbarten Zeit (halb sieben) an der Theke saßen. Bier aus Plastikbechern, was soll‘s.
    Um Viertel nach sieben noch kein Tonio. Mirjam rief ihn auf dem Handy an. Ja, es sei so … sein Fahrrad sei am Hauptbahnhof stehengeblieben, und jetzt habe er die Straßenbahn genommen. Er sei ungefähr auf halber Strecke. Bis gleich. Hui . (Sein Abschiedsgruß klang abwechselnd wie »hui« oder »oi«.)
    Auf einmal stand er neben uns, genauso unauffällig angeschlichen, wie er immer das Wohnzimmer betrat. Das leicht verlegene Grinsen in Verbindung mit einer leichten Beugung des Oberkörpers – seine Begrüßung. Er küßte seine Mutter nicht selbstverständlich: das mußte von ihr kommen. Ich begnügte mich damit, seine Schulter kurz zu drücken.
    Als ich glaubte, Tonio stehe am Beginn der Pubertät, beschloß ich, ihn künftig möglichst wenig in Verlegenheit zu bringen, indem ich ihn in der Öffentlichkeit knuddelte. (Als ich ihn einmal auf der Straße einer zufällig getroffenen alten Freundin vorstellen wollte und ihm dabei den Pony aus den Augen strich, riß er sich los und tanzte grimmig, mit geballten Fäusten, um mich herum, wobei er meinen Bauch als Punchingball benutzte.) Aber so etwas spielt sich natürlich erst allmählich ein. Als wir uns eines Abends, nebeneinander auf der Couch, ein Quiz im Fernsehen ansahen und beide laut über den Ausrutscher eines Kandidaten lachen mußten, zog ich ihn spielerisch und neckend an mich. Ich hatte erwartet, er würde mich knuffen, doch genauso, wie ich ihn an mich gezogen hatte, blieb er liegen, schräg an

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