Tontauben
sie sich auf etwas besinnen. Die großen Fenster des Restaurants geben den Blick frei auf den Hafen, auf die lautlosen Bewegungen der Schiffe und Boote. Zwei Fischer in gelben Gummihosen picken die letzten Fische aus dem Netz und werfen sie auf den silbrig schimmernden Haufen in ihrem Kutter. Eine Horde Kinder, alle in gestreiften Hemden, mit roten Tüchern um den Kopf und einem Säbel am Gürtel, klettern eilig auf das Piratenschiff, das hier zweimal die Woche in See sticht. Ihnen hinterher ein Mann mit Dreispitz und Knickerbockern. Er schwenkt eine Fahne mit einem Totenkopf. Anne erinnert sich, wie Karen und Yola vor Jahren gemeinsam die Fahrt gemacht haben. Wie Yola aufgeregt erzählte, von der Schatztruhe, dem Seilziehen, vom Holzbein-Wettlauf, den Seemannsknoten. Und wie Karen, unschlüssig, ob sie nicht schon zu alt für all das war, bloß grimmig lächelte und ihre kleine Schwester manchmal verbesserte.
Wie war das noch mal, fragt Anne. Du hast nur ein Kind, oder?
Tristan schüttelt den Kopf. Eine Tochter noch, sagt er. Aber sie ist viel jünger. Er überlegt kurz. Im nächsten Monat ein Jahr.
Oh. Anne räuspert sich. So klein noch.
Sie lebt mit ihrer Mutter auf dem Festland. Ich sehe sie jedes zweite Wochenende.
Anne ist überrascht, auf eine Weise verletzt, die ihr selbst nicht einleuchten will. Vielleicht später, denkt sie. Vielleicht verstehe ich das nachher. Sie nickt, aber er muss ihr die Verwirrung angemerkt haben, denn er beugt sich über den Tisch und erklärt: Ich kenne ihre Mutter kaum. Meine Frau ist bei mir geblieben. Verziehen hat sie mir wohl nicht. Aber sie ist geblieben.
Er sieht sie abwartend an, und Anne sagt: So ist das manchmal. Sie zuckt mit den Schultern. Manchmal muss das reichen. Oder?
Ja, sagt Tristan, manchmal schon.
Der Kellner kommt an ihren Tisch. Stellt die Teller ineinander, legt das Besteck auf den obersten Teller. Er zieht die Stirn kraus, blickt kurz auf seine Fingernägel, dann über ihre Köpfe hinweg. Fragt gelangweilt: Dessert?
Als er seinen Kaffee umrührt, fragt Tristan: Alles klar?
Ja, sagt Anne, natürlich.
Sie wartet, bis er einen Schluck Kaffee nimmt. Sagt dann: Du hast noch gar nicht nach dem neuen Job gefragt. Ich meine, ist das nicht der Grund, warum wir hier sind?
Doch. Auch. Tristans Stimme klingt überrascht und ein wenig belustigt. Also wie ist das Maklerleben?
Gut. Sie macht eine Pause, legt sich die Worte zurecht. Es ist schön und ein bisschen schrecklich. Ich weiß nicht, ob ich wirklich Talent dazu habe. Aber man lernt viele Leute kennen. Kann ihnen manchmal tatsächlich das zeigen, was sie suchen. Das gefällt mir.
Sie sieht ihn an, lächelt aufmunternd. Ich danke dir. Du warst mir wirklich eine große Hilfe.
Gern geschehen, sagt Tristan förmlich. Sie kann den Spott in seiner Stimme hören, aber sie beschließt, das zu ignorieren.
Darf ich dich einladen?, fragt sie, und Tristan sagt artig: Aber bitte. Danke schön.
Als sie vor die Tür des Restaurants treten, regnet es. Winzige Tropfen, ohne Unterlass. Nieselregen. Sprühregen. Am Himmel ausgedehnte Wolken wie ein Nebelteppich. Aber hier unten alles klar, scharf umrissen, glänzend.
Wo steht dein Auto?, fragt Tristan. Er läuft neben ihr her, die Hände in den Hosentaschen. Am Auto sagt sie: Also. Sie nickt abschließend, und er sagt: Lass mich kurz rein, bevor ich ganz durchnässt bin.
Sie steckt den Schlüssel ins Zündschloss, dreht ihn aber nicht. Im Spiegel ihr Haaransatz, immer noch schwarz, aber von weißen Haaren durchzogen. Er sitzt neben ihr, sieht aus dem Fenster. Seine Hände liegen auf seinen Oberschenkeln, es sieht aus, als halte er sich davon ab, wegzulaufen.
Soll ich dich zu deinem Auto fahren?
Er schüttelt den Kopf.
Sie sieht auf die Uhr und sagt, so spät schon, aber bevor sie weiterreden kann, sagt er: Hör auf.
Er sieht sie nicht an, nimmt eine ihrer Hände, legt sie sich aufs Gesicht. Die Scheiben beschlagen, in wenigen Minuten wird all das verschwunden sein: die anderen Autos, der Hafen, die Alte Säulenhalle, in der heute Stände mit Essen und Kleinkunst aufgestellt sind, der Himmel. Sie versucht kurz, ihm ihre Hand zu entziehen. Dann gibt sie nach, überlässt sie ihm. Spürt seine Lippen an ihrer Handfläche, an ihren Fingern, seine Zunge, die Wärme seines Atems, die Kanten seiner Zähne.
Etwas Neues. Das hat er zu ihr gesagt: Nun habe auch er etwas Neues gewagt. Sie hat den Kopf geschüttelt: Für mich war es etwas Neues, für dich nicht. Er hat sie
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