Tontauben
beschrieb David alles ganz genau, auch die Gesichter der Polizisten, mit denen sie sprach, jede Woche ein anderer, als sei sie eine lästige Pflicht, bei der man sich abwechseln muss. Aber immer höflich, mit einem Ausdruck von Mitgefühl, oder was sie dafür halten sollte. Einmal hatte sie eine Annonce geschaltet, hatte selbst nach Zeugen gesucht, nach einem Auto, vielleicht ein Geländewagen, mit verchromten Stoßstangen. Wir sind uns da ja gar nicht sicher, hatte der Polizist gesagt. Wir haben bloß keine Farbspuren gefunden. Drei Männer und eine Frau hatten sich gemeldet. Wollten in der fraglichen Nacht durch das Waldstück gefahren sein. Einer hatte ein Motorrad gesehen, das zu schnell fuhr. Nein, sagte Anne, kein Motorrad. Einer hatte einen Wagen gesehen, der im Schritttempo die Straße entlangfuhr. Mit eingeschaltetem Fernlicht. Was für ein Wagen?, fragte Anne. Ein Van, sagte der Mann. Oder ja, vielleicht auch ein Geländewagen. Das Kennzeichen hatte er sich nicht gemerkt. Ich hatte den Eindruck, der habe da etwas verloren, sagte er. Einer hatte den silbernen Sportwagen seines Nachbarn gesehen. Zu dem würde das passen: jemanden anfahren und abhauen. Er buchstabierte den Namen, die Adresse. Danke, sagte Anne und legte auf. Die letzte Anruferin wollte nur reden, hatte von dem Fall gehört. Sie hatte selbst früh ihren Bruder verloren, acht war sie da gewesen und vielleicht nicht ganz unschuldig, weil die Lungenentzündung, an der der Bruder starb, von einem Ausflug herrührte, den sie sich zum Geburtstag gewünscht hatte. Wandern im Januar. Im strömenden Regen. So ein Unsinn, sagte sie. Auf den Haushügel rauf, fast fünfhundert Höhenmeter, die Füße feucht vom Matsch, der Bruder immer vorneweg, als gelte es, was zu beweisen. Am Abend dann das Fieber, die rasche Verschlechterung seines Zustandes. Die Frau weinte leise. Seitdem sei sie nie mehr wandern gegangen, sagte sie.
Als Anne sich hinlegt, merkt sie, dass David wach ist. Sie sagt seinen Namen und er sagt ja. Habe ich dich geweckt? Nein. Er steht auf und sie kann hören, wie er ins Bad geht, das Wasser laufen lässt. Wie spät ist es?, fragt sie, als er wieder ins Zimmer kommt. Halb fünf. Er stellt sich vors Fenster, ein schwarzer Fleck im Grau des Morgens. Komm, sagt sie. Sie klopft auf die freie Stelle neben sich, und David wischt sich über das Gesicht. Presst sich kurz die Fingerspitzen auf die Augen, sie stellt sich vor, wie das pulsiert. Sie sagt noch einmal, komm, und er legt sich neben sie und macht leise pscht, als wollte er sie vom Sprechen abhalten. Sie legt ihren Kopf auf seinen Bauch, sie kann hören, was in ihm vorgeht, sie weiß, wie sich das anhört. Er muss dafür nicht reden. Was gäbe es auch zu sagen?
Endlich fängt es an zu schneien, endlich verwandelt die Insel sich. Die Straßen sind weiß und voller Licht. Es ist gut, am Morgen aufzustehen und etwas vorzuhaben. Durch den Schnee stapft Anne zum Auto, wischt die Scheiben mit einer Hand frei. Sie fährt in die Agentur, hängt die Jacke an die Garderobe. Nimmt sich einen Kaffee. Verabredet Termine mit Hausbesitzern, dem Fotografen, mit Suchenden, die sie oder Julia durch die Häuser und Wohnungen führen. Anders als Julia mag sie es gerne, wenn die Häuser noch nicht leerstehen. Wenn sie bewohnt sind und aussehen, als seien sie nur für einen Besuch zu haben. Auch wenn die Hausbesitzer da sind, mag sie das: weil sich dann alles zusammenfügt, Haus und Mensch und Leben.
An drei Tagen in der Woche ist sie in der Agentur. Mehr kann ich mir nicht leisten, sagt Julia, ohne zu lachen.
An Karen schickt Anne ein Paket. Zwei Schachteln Lebkuchen. Ein Foto vom Garten, die verschneite Wiese, die Sträucher, die wie mollige Gespenster aussehen. Eines vom Hund, der helle Kopf voll Schnee. Dazu ein Buch, das sie in Karens Regal gefunden hat, über einen Vampir, der Weihnachten feiert. Karen hat es als Kind geliebt, immer wieder zur Weihnachtszeit hat sie es mit der gleichen Begeisterung hervorgenommen. Sie wird sie sentimental finden. Und wenn schon, denkt Anne.
Die Schlange auf dem Postamt reicht bis auf die Straße hinaus. Anne unterhält sich mit der Frau vor ihr. Bietet ihr an, ihre Briefe mitzunehmen. Es reicht doch, wenn eine von uns warten muss. Die Frau überlegt einen kurzen Moment, sagt dann, danke, vielen Dank, und legt ihr die drei Briefe auf das Paket. Sie kramt nach ihrem Portemonnaie. Nein, sagt Anne, das geht schon. Sie sieht der Frau hinterher, die sich noch einmal umdreht
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