Tontauben
und winkt. Wie sie die Straße entlangläuft, mit kleinen schnellen Schritten, die Stöße ihres schwarzen Mantels umflattern ihre Beine wie anhängliche Raben. Auf dem Heimweg schaut Anne in den Himmel, der so weiß ist, dass alles möglich scheint.
David sagt: Ich kann die Scherenschnitte nicht mehr sehen. Jedes Jahr die gleichen papiernen Eiskristalle an den Fenstern der Schulzimmer.
Besser als das Landeswappen aus Wollresten, sagt Anne.
Ja, und besser als die Scharen von Kastanienmännchen, sagt er. Trotzdem schlimm.
Am Nachmittag geht er zur Chorprobe. Süßer die Glocken. White Christmas. Oh du Fröhliche. Stille Nacht. Vor zwanzig Jahren, kurz nachdem sie auf die Insel gekommen waren, hatte er den Chor gegründet. Drei Frauen und zwei Männer. Heute hat er mehr als dreißig Mitglieder. Jedes Jahr absolvieren sie drei Auftritte: Ostern, Sommerfest, Weihnachten. Im vergangenen Frühjahr haben sie am Chorfestival am Gardasee teilgenommen und den sechsten Platz belegt. Von dreizehn Chören.
Nach dem Essen spült David und räumt die Küche auf. Dann legt er sich zum Hund auf den Boden, streichelt ihm das kurze Fell, entlockt ihm ein genüssliches Jaulen, indem er seine Ohren krault. Früher, als die Kinder noch klein waren, spielte David am Abend mit ihnen. Sie hatten den ganzen Tag darauf gewartet, eroberten ihn wie eine Burg, bestiegen ihn wie einen Berg.
Als das Telefon klingelt, sagt Anne: Ich gehe schon.
Wusstest du nicht, dass es das gibt?, fragt Tristan. Dass Dinge geschehen, gegen die wir uns nicht wehren können.
Du übertreibst, sagt sie.
Meinst du?
Sie spürt, dass sie ihm wehtun kann, und schweigt.
Für mich ist es nun mal so, sagt Tristan. Ich bin entflammt.
Er lacht leise.
Ist das ein Zitat?
Ja, sagt er, aber ich meine es auch so.
Vielleicht geht das einfach sehr schnell bei dir.
Und was war das dann? Das mit uns?
Nichts, sagt Anne. Nichts Wichtiges.
Wann sehen wir uns?
Du hörst nicht zu.
Ich rufe morgen wieder an.
Ja, sagt Anne. Ja, tu das.
Sie wartet, bis er aufgelegt hat. Dann legt auch sie auf.
Am Samstagnachmittag steht überraschend Christa vor der Tür. Eine Tasche am Arm, groß genug, um lange zu bleiben. Sie hat den Schweden verlassen. Es sei eigentlich nichts geschehen. Nur habe sie plötzlich gemerkt, was der tue. Wie der sie klein halte, sich wichtig nehme. Außerdem sei er verheiratet. Habe in Schweden fünf Kinder. Drei mit seiner Frau und zwei mit deren bester Freundin.
Die müssen da in ihrem Småland wie in einer Kommune gelebt haben, sagt Christa. Er als Häuptling der Sippe, umgeben von Kindern und Frauen und Elchen.
Sie bringt ihren Koffer in Karens Zimmer, bezieht das Bett neu. Dann geht sie ins Badezimmer, kommt mit frisch gewaschenem Gesicht zurück, die Haare in einen kurzen Pferdeschwanz gezwängt. Steht in der Küche herum, bis Anne ihr eine Tasse Kaffee auf den Tisch stellt und Setz dich sagt. Sie schaut Christa an, sieht sie für einen Moment als Kind vor sich, die gleiche blasse Haut, die gleichen hellen Augen, das herzförmige Gesicht. Während Anne in ihrer Jugend in einen ganz anderen Körper, ein ganz anderes Gesicht hineingewachsen war. Auch innerlich ist Christa sich gleich geblieben, denkt Anne. Immer noch hat sie keine Menschenkenntnis, nicht ein bisschen.
Ich würde gerne wissen, warum ich immer an die Falschen gerate, sagt Christa, und Anne muss kurz lachen, weil ihre Gedanken ineinanderpassen wie Puzzlesteine.
Weiß auch nicht, sagt sie.
Was mich am meisten ärgert, ist, dass ich immer so dumm bin, sagt Christa. Alle um mich rum wissen längst, was für ein Idiot der Mann an meiner Seite ist, nur ich bin noch beeindruckt.
Sie schüttelt den Kopf und einen Moment lang sieht es aus, als müsste sie weinen. Dann nimmt sie einen Schluck vom Kaffee.
Du warst halt verliebt, sagt Anne.
Sie ist froh, dass sie nichts gesagt hat. Keine Belehrungen von sich gegeben hat, keine Schuldzuweisungen. Sie weiß, dass sie dazu neigt, und sie mag das nicht.
Aber es ist immer so, sagt Christa. Seit ich denken kann.
Sie runzelt die Stirn, als ärgere sie sich über sich selbst. Als fände sie das alles schrecklich und komisch zugleich.
Das einzig Gute ist, dass ich nicht leidensbereit bin. Keine masochistischen Neigungen, kein Helfersyndrom.
Sie pustet in den Kaffee, der inzwischen schon lau sein muss.
Einfach nur ein bisschen doof, sagt sie, nichts Schlimmes.
Als David in die Küche kommt, steht sie auf und umarmt ihn kurz.
Ich bin schon
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