Tontauben
einen Moment lang verständnislos angesehen und dann gesagt: Du weißt, dass das Unsinn ist. Oder? Denn wenn du das nicht weißt –. Sie hat geblinkt, in den Rückspiegel geschaut, angehalten. Hier sind wir. Er hat noch einmal ihre Hand genommen, hat ihr mit der anderen Hand die Haare aus dem Gesicht gestrichen, sie auf der Wange ruhen lassen, kurz nur, nicht väterlich. Rufst du mich an? Vielleicht, hat sie gesagt. Bestimmt, als sie seinen Blick sah.
Jetzt liegt sie in ihrem Bett. Überlegt. Was ist das gewesen? Wann hatte es das das letzte Mal gegeben? Das Fremde plötzlich nah, ganz und gar ungeheuerlich, und die Unmöglichkeit, einfach aufzuhören. Als sie nach Hause kam, hatte sie Hunger. Suchte im Schrank nach Schokolade, fand eine halbe Tafel, aß sie auf. Um kurz nach fünf kam David nach Hause, einen dicken Ordner unter dem Arm, der Entwurf der Schulreform. Er sagte: Da habe ich mir was aufgehalst. Aber sie merkte, dass er nicht unglücklich war, die schlechte Laune nicht ganz echt. Sie kochten gemeinsam, Fleisch, Reis, Salat. Dann schauten sie Fernsehen, eine Spielshow, es ging um Tiere. Das Gewicht eines Elefantenbullen. Die Abstammung der europäischen Hauskatze. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Regenwurms. Zwischen drei und acht Jahren. David sagte: Acht Jahre! Hättest du das gedacht? Anne schaute auf den Fernseher. Ein Regenwurm im Schlamm, sein Weg durchs Erdreich mit leuchtend rosa Linien nachgezeichnet. Wie war das noch mal, wenn man ihn zerschnitt? Lebten dann zwei Teile weiter, entfernten sich gleichgültig voneinander? Oder war das nur ein Kinderglaube, Rechtfertigung für die kleinen Barbareien?
Sie kann Davids Atmen hören, die Geräusche, die er im Schlaf macht. Sie steht auf und geht ins Bad. Sieht sich im Spiegel an, hebt das Nachthemd hoch. Findet nicht schön, was sie sieht. Die Vorstellung, das einem Fremden zuzumuten. Das Geäderte, Wellige. Am Ende, denkt sie, bin ich nur aus Eitelkeit treu. Aber sie weiß, dass das nicht stimmt. Sonst wäre sie früher untreu gewesen.
Ein Kuss. Ein Kuss oder drei, fünf, siebzehn, eine kleine, nicht abreißende Serie von Küssen an einem Abend vor neunzehn Jahren. Sie waren damals seit zwei Jahren verheiratet gewesen, und sie hatte auf einer Feier neben einem Mann gesessen, mit dem sie trank. Rotwein, später Portwein, in winzigen Schlucken. David war bei Karen geblieben, kein Babysitter aufzutreiben, zumindest keiner, den Karen akzeptiert hätte. Sie kann sich kaum an den Mann erinnern. Weiß nur noch, dass sie seine Hände mochte. Die sie festhielten, im Hinterhof einer Pizzeria, als er sie nach Hause brachte. Hier?, hatte sie ungläubig gefragt, die raue Mauer im Rücken. Er hatte ihren Hals geküsst, ihren Mund, eine Hand in ihrem Nacken. Über seine Schulter konnte sie zwei Katzen zwischen den Mülltonnen sehen. Die eine sprang hoch, tauchte ab wie eine Ente im Teich, während die andere sich in einigem Abstand zu den Tonnen hinsetzte, die Pfote leckte, ungerührt, aber wachsam. Anne hatte lachen müssen, ihr fehlte der nötige Ernst.
Sie geht ins Wohnzimmer, macht den Fernseher an. Schaltet durch die Programme, bleibt bei einer Sitcom hängen. Rede und Gegenrede, Lacher aus dem Publikum oder vom Band, die bunte Kulisse, das amerikanische Wohnzimmer, gemütlich und ein bisschen schäbig. Wie sich alles regeln lässt. Wie das Leben immer weitergeht, mit seinen Höhen und Tiefen. Wie hinter allem das Komische lauert, die Tragik zurechtgezimmert auf menschliche Größe. In den Wochen nach dem Unfall hatte sie angefangen, diese Sendungen zu sehen. Während sich David in sein Arbeitszimmer einschloss, setzte sie sich vor den Fernseher. Legte die DVD ein, schaute zwei, drei Folgen hintereinander. Was sie damals nicht vertrug, war Davids Trauer: seine Hingabe daran, sein Versinken darin. Sie sagte: Mach was, leb das nicht so aus. Was soll ich machen, was nicht ausleben?, fragte er. Wir haben unsere Tochter verloren.
Am Ende war sie es, die etwas machte. Die bei der Polizei vorbeiging, einmal die Woche. Die sagte: Man muss den Schuldigen finden, man kann doch nicht einfach aufgeben. Die ockerbraunen Wände, das Plakat mit den Fotos der gesuchten Terroristen. Auf der Theke, die die Polizisten von den Besuchern trennte, stand eine riesige Schale mit Bonbons, von denen nie jemand nahm. Daneben lagen Broschüren: Was zu tun ist nach einem Diebstahl. Ruhig bleiben, Vorfall melden, Karten sperren lassen, gegebenenfalls Schlösser auswechseln. Sie
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