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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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fragt, kann ich morgen noch mal mitkommen?, und Julia sagt: So oft du willst.
    Was, fragt Anne, hast du heute vor?
    Karen zuckt mit den Schultern, nimmt ihre Tasse in beide Hände und trinkt einige Schlucke, bevor sie antwortet. Sie ist gestern Nachmittag angekommen. Anne und David haben sie am Flughafen abgeholt. Vor dem Abendessen hat sie Geige geübt, für einen Moment war es wie früher. Ob sie sich einsam fühlt in Antwerpen? Anne weiß es nicht. Die Zeiten, in denen Karen ihren Rat suchte, scheinen vorbei. Auch wenn sie viel erzählt. Von den Lehrern am Konservatorium, der seltsamen Sprache, die man schnell verstehen und lange nicht sprechen kann. Von den Orchesterproben, den mal neurotischen, mal freundlichen Dirigenten, den zwei einander hassenden Trompetern, dem unzuverlässigen Flötisten. Der denkt, er bleibt unentdeckt, aber da täuscht er sich, sagt Karen. Die beobachten ihn und schweigen und laden einen Flötisten nach dem anderen zum Vorspiel ein. Sie selbst hat einen Fleck am Hals, ein rotes Mal, das von ihrem Fleiß zeugt, ihrem Ehrgeiz.
    Vielleicht treffe ich Silke. Karen reibt sich die Augen, gähnt. Oder Thea.
    Silke und Thea. Ihre Freundinnen seit Kindheitstagen. Silke, die mit siebzehn auszog, die Schule trotzdem beendete. Die ein Studium auf dem Festland anfing, es nach einem Jahr abbrach und zurück auf die Insel kam. Wo sie was macht? Anne weiß es nicht. Vielleicht nichts. Vielleicht wartet sie einfach darauf, dass sich etwas verändert. Dass etwas passiert und sie nur noch Ja sagen muss: Ja, danke. Und Thea, die eine Ausbildung zur Physiotherapeutin macht. Die sanfte Thea, die nie laut wird, selbst wenn sie wütend ist. Die früher so schüchtern war, dass sie schon errötete, wenn sie grüßen musste. Die Schneckenhäuser wieder zusammenklebende Thea. Thea, die Yolanthe als erste Yola nannte. Was dann hängenblieb.
    Yola. Yola. Yola. Eine Stadt in Nigeria. Ein altenglischer Dialekt. Aber eigentlich: das Veilchen. Die blumenblauen Augen, die nach einem halben Jahr plötzlich dunkelgrün wurden.
    Wollen wir ein bisschen spazieren gehen? Den Deich entlang, runter ans Meer?
    Klar, sagt Karen, warum nicht. Sie streichelt dem Hund über den Kopf, nimmt sich eines der Brötchen aus dem Korb. Beißt hinein, bevor sie es aufschneidet. Sagt: Solche Brötchen gibt es nur hier.
    Der Himmel über dem Deich ist bleiern und schwer. Die Schafe stehen bewegungslos mit gesenkten Köpfen, nur die Lämmer springen umher. Die ganze Insel liegt wie unter einer Glasglocke, der Wind sammelt sich für den bevorstehenden Sturm. Im Laufe des Nachmittags soll er beginnen. Aber vor Sonntagabend abebben.
    Keine Sorge, sagt Anne, dein Flug wird bestimmt nicht gestrichen.
    Sie gehen den Deich entlang, die kürzere Strecke. Der Hund läuft neben ihnen und würdigt die Schafe keines Blickes.
    Sieh mal, sagt Karen und zeigt auf das Watt hinaus. In einiger Distanz kann Anne einen großen Vogel sehen. Vorsichtig hebt er eines seiner langen dünnen Beine. Setzt es langsam und wie mit Widerwillen gegen den sumpfigen Grund wieder ab. Sieht sich misstrauisch um und stößt schließlich seinen Schnabel verachtungsvoll in den Morast.
    Ein Reiher, sagt Anne. Hat sich wohl verirrt.
    Vom Deich herunter. Vorbei an den Ferienhäusern, der Bäckerei mit ihrem verlockenden Duft bis auf den Gehweg hinaus. Auf der Landstraße der Flughafenbus mit den gelben Flugzeugen auf blauem Grund. Den Waldweg entlang, der Hund plötzlich in Jagdpositur, ein Bein angewinkelt, die Nase in der Luft, dann läuft er weiter, schnüffelt ausgiebig an den Büschen und Bäumen. Und irgendwann die Dünen, der nachgiebige Sand, der Strand.
    Das, sagt Karen, vermisse ich schon.
    Die Wellen übertönen fast ihre Stimme. Sie legt beide Hände auf die Ohren, bewegt sie leicht.
    Früher dachte ich, dass es nur in Muscheln rauscht. Das Meer darin, du weißt schon. Sie lacht. Irgendwann hielt ich mir mal eine Tasse ans Ohr.
    Und?, fragt Anne.
    Das Gleiche, sagt Karen. Ganz genau das gleiche Rauschen.
    Ein Frachter, beladen mit rostroten Containern, gleitet sehr langsam über das Meer. Über die Anemonen, den Sand, die Fische hinweg. Bemerkenswerte Fische, denkt Anne. Schimmernd und glubschäugig und urzeitlich. Fische, die ihr Angst machen, wenn sie um ihre Beine streichen. Wenn sie sie durch das Glas der Taucherbrille sieht, wie sie geradewegs auf sie zu schwimmen und ihr dann ohne jede Mühe ausweichen.
    In Antwerpen gehen wir auch manchmal ans Wasser, sagt Karen, als

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