Tontauben
sie zurück zu den Dünen laufen. Erinnerst du dich an die Promenade am Fluss?
Ja, sagt Anne, mit dieser uralten Rolltreppe und dem Fußgängertunnel.
Karen nickt. Abends ist es schön da, sagt sie. Und manchmal riecht es wie am Meer.
Sie hat sich bei ihrer Mutter eingehängt, sieht sie nicht an. So nah neben ihr bemerkt Anne das Stocken in Karens Gang. Sie hatte es fast vergessen, diese winzige Verzögerung zwischen dem Jetzt und Gleich, dem Hier und Dort. Mit elf Jahren hatte Karen sich bei einem Skiunfall das Bein gebrochen. Hinkte noch, als das Bein längst verheilt war. Dann verschwand auch das, tauchte nur noch selten auf. Beim Rennen oder auf unebenem Boden.
Wir?, fragt Anne. Wer ist wir?
Was?
Du hast gesagt: Wir gehen ans Wasser. Wer ist das? Du und wer?
Der Ton ist falsch, denkt Anne. Als ob ich ein Recht hätte, das zu erfahren. Als ob sie mir etwas schuldig sei. Ein Geständnis oder eine Neuigkeit.
Sie fragt: Bin ich zu neugierig?
Nein, sagt Karen. Sie sieht sie an, grinst. Na, vielleicht doch. Aber da gibt es nichts zu erfahren, weißt du. Wir: ein paar Freunde, ich, eine Freundin. Niemand, dessen Namen du dir merken müsstest.
Sie hat Anne losgelassen, fragt jetzt: Enttäuscht?
Anne schüttelt den Kopf. Darum geht’s ja auch nicht. So lange es dir gut geht.
Ja, sagt Karen. Doch. Sie sagt: Besser zumindest.
Sie haben das Ende der Dünen erreicht und gehen am Strandhotel vorbei, das verlassen daliegt. Die Fenster stahlgrau von den Wolken, die Fahnen im Vorgarten träge und schlaff. Ein Auto fährt im Schritttempo an ihnen vorbei, ein Sportwagen, der Aufkleber eines Golfclubs neben dem Rücklicht. Anne kann einen winzigen Mann erkennen, der einen Golfschläger über dem Kopf hält. Dem Ball hinterherschaut. Darüber der Name des Clubs.
Ich hab so oft gedacht, dass es meine Schuld war, hört sie Karen sagen. Hast du das nie gedacht? Sei ehrlich, hast du bestimmt auch.
Bevor sie etwas sagen kann, spricht Karen weiter.
Ich meine, ich hatte versprochen, nach ihr zu schauen. Ihre erste richtige Party. Sie war die Jüngste, weißt du. Ich glaube, sie fand’s schrecklich. Aber ich habe mich nicht darum gekümmert. Ich weiß noch, dass ich sie rumstehen sah, eine Cola in der Hand, und dieser Blick – erinnerst du dich an ihren Blick, wenn sie sich unwohl fühlte? Dieses unsichere Lächeln, das sie einfach nicht abstellen konnte und das mich verrückt gemacht hat, wirklich verrückt? Ich sah sie da stehen und dachte: Selbst schuld, warum wolltest du auch unbedingt mitkommen? Nett, was?
Sie lacht spöttisch und wehrt Annes Hand ab.
Ist auch egal. Das ändert alles nichts. Es ist nur so, dass ich im letzten Jahr den Kopf nicht frei hatte für irgendwas. Oder irgendwen. Dafür habe ich viel geübt. Sie schnaubt kurz. Singt leise: Fideldum, fidelda, was spielt das Kind so wunderbar.
Sei nicht so, sagt Anne. Sie kann kaum sprechen. Sieht Yola vor sich: ihr Lächeln, das wirklich seltsam war, das Gegenteil von einem Lächeln eigentlich. Oder die Quintessenz davon – die Bitte um Schonung und Nachsicht. Wann hatte das angefangen, diese Unsicherheit? Mit elf, zwölf Jahren, mit Einsetzen der Pubertät? Sie erinnert sich an Yolas grundloses Weinen, ihren Hass auf alles, was sich an ihr veränderte, die großen Füße, die unreine Haut, die Brüste. Ich schneid sie ab, hatte sie einmal gedroht, als sie in der Badewanne saß und Anne am Waschbecken stand. Sie hatte die Hände auf ihre winzigen Brüste gelegt, sie verborgen wie zwei Schandmale. Anne hatte gelacht, Yola irgendwann auch.
Und Karen vor ihrem Bett, nachts um zwei. Die Angst in ihrem Gesicht. Es geht um Yola. Sie ist nicht da. Aber hier stehst du doch, dachte Anne. Als ginge das nicht: die eine ohne die andere. Als wäre das das eigentliche Problem.
So wie? , fragt Karen, und Anne sagt: So zynisch. Das steht dir nicht.
Auf der anderen Straßenseite kommt ihnen ein Mann entgegen, ein kleines Kind auf dem Arm. Im Näherkommen winkt er ihnen zu und Anne erkennt den Mann von den Hausbesichtigungen wieder. Sie winkt zurück, sagt beiläufig zu Karen: Ein Kunde.
Ein was?, fragt Karen ungläubig, und Anne erzählt von den Hausbesichtigungen, ihren ersten Versuchen als Immobilienmaklerin. Als Assistentin einer Maklerin, verbessert sie sich. Dass sie Spaß daran habe, erzählt sie, und dass sie es manchmal unmöglich finde: dieses Eindringen in private Räume, diese Begutachtung fremder Leben. Und dann wieder das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun,
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