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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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aber auch nach einer Weile heraus, dass Anne genau das gut brauchen kann, was Christa ihr geschenkt hat.
    Ich möchte kein Alibi, sagt sie.
    Du könntest ihn treffen, mit ihm zusammen sein. Ich meine … richtig.
    Ich weiß, was du meinst, sagt Anne.
    Sie merkt, dass sie wie eine Richterin klingt. Das sind ihre alten Rollen: die Vernünftige und die Unvernünftige. Die Brave und die Wilde. Wahrscheinlich war sie schon eine große Schwester gewesen, bevor sie eine wurde. Hatte fünf Jahre lang nur darauf gewartet, eine Kleinere zu erziehen. Vielleicht hat es sie darum manchmal verwundert, wie wenig Karen sich für diese Rolle interessierte. Wie sehr sie sich abzugrenzen versuchte, von den Forderungen, die eine große Schwester nun mal zu erfüllen hat. Anne hat einmal versucht, es ihr zu erklären. Die Ältere, sagte sie, ist dafür da, der Jüngeren ein Vorbild zu sein. Ihr den Weg ins Leben zu erleichtern, sie vor Schaden zu bewahren. Aber dafür, entgegnete Karen, hat Yola doch dich.
    Na, sagt Christa, überleg’s dir. Sie drückt ihre Zigarette aus, gähnt. Steht auf und schüttet den Rest ihres Tees in das Spülbecken. Ich geh schlafen.
    Sie kommt noch einmal zurück, bleibt im Türrahmen stehen.
    Du bist nicht böse auf mich, oder?
    Nein, sagt Anne. Sie sieht sie nicht an, spielt mit der leeren Tasse. Dreht sie auf ihrem Rand, bis sie kippt. Ich bin nicht böse, sagt sie. Nur ein wenig ratlos. Das ist alles sehr verwirrend.
    Ja, sagt Christa. Sie tritt an den Tisch, umarmt Anne von hinten, drückt sie kurz und fest. Und ich mache es noch schlimmer.
    Stimmt, sagt Anne. Du bist die Versucherin.
    Vor der Fähre staut sich der Verkehr, glänzende Autodächer unter der Wintersonne. Der Himmel ein tiefes Blau, alles wie poliert. Sie sind früh am Morgen aufgebrochen. Haben Christa nach Hause gefahren. Sind danach essen gegangen und ins Museum. Sie haben vor den Bildern gestanden und versucht, etwas zu entdecken, etwas, das man leicht übersieht. Eine Schnecke am Bildrand. Den Fleck auf einer nackten Brust. Im Hintergrund das schemenhafte Gesicht eines Affen mit bösen Augen. Du weißt, was das heißt, hatte David gesagt, und Anne hatte gesagt, natürlich, und eine Interpretation angefügt, die ihr gerade in den Sinn kam. Nicht vorher nachdenken. Gleichzeitiges Sprechen und Denken. Manchmal hatten sie das Gefühl, danach trotzdem mehr verstanden zu haben. Manchmal mussten sie lachen.
    Das war ein schöner Tag, sagt Anne.
    Sie hält ein Fläschchen mit Nagellack in der Hand. Malt die Zehennägel rot. Das ganze Auto riecht nach Lösungsmittel. Früher hätte sie David gefragt: Bist du glücklich? Früher hätte er kurz überlegt und Ja gesagt: Ja, ich glaube schon.
    Finde ich auch, sagt David. Er öffnet die Seitentür, versucht an den Autos vorbeizuschauen. Gleich sollte es weitergehen, sagt er. Sie winken schon die ersten rein.
    Er schließt die Tür, die Kälte bleibt für einen Moment im Auto. Dann setzen sich die Autos in Bewegung. David startet den Motor. Sie rollen als Letzte auf die Fähre. Hinter ihnen wird das Gatter zugeschoben.
    Als sie die Haustür öffnen, kommen ihnen die Hunde entgegen. Der Labrador, der sich schwanzwedelnd gegen ihre Beine drückt. Der kleine Braune, der vor Aufregung zittert, das Bein an der Kommode hebt, sich erleichtert.
    Der hat ja Nerven, sagt David.
    Aus der Küche holt er einen Lappen und Wasser, während Anne mit den Hunden in den Vorgarten geht. Der Schnee auf dem Rasen ist hart geworden, sie hinterlässt flache Abdrücke, als sie zum Buchsbaum geht, um das Vogelhaus zu kontrollieren. Alle Haferflocken sind weg, die Hülsen der Sonnenblumenkerne sind leer. Als sie zurück zum Haus geht, öffnet David die Tür.
    Telefon für dich, sagt er.
    Sie nimmt den Hörer entgegen. Ja?
    Ich bin’s, sagt Tristan. Du warst heute den ganzen Tag nicht zu erreichen.
    Ja, sagt Anne. Und was hast du gemacht?
    Nichts, sagt Tristan. Er klingt reserviert, doch als sie schweigt, sagt er: Ich habe meine Tochter gesehen. War mit ihr im Zirkus. Nach einer Viertelstunde ist sie eingeschlafen, und als sie wieder aufwachte, fing sie an zu schreien. Ich konnte sie nicht beruhigen. Er sagt: Ich muss dich sehen.
    Ich verstehe, sagt Anne.
    Wann?, fragt Tristan.
    Anne nickt David zu, der vor ihr stehen geblieben ist, eine Flasche Rotwein in der einen Hand, zwei Gläser in der anderen. Er wartet noch kurz, sieht sie nachdenklich an, geht dann ins Wohnzimmer.
    Das klingt doch gut, sagt Anne laut. Lass uns

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