Tontauben
nächste Woche mal ausführlicher telefonieren. Wir kommen gerade erst rein.
Ach Anne, sagt Tristan.
Anne sagt: Oh ja. Es war sehr schön. Kalt, aber sonnig. Sie lächelt, sagt: Also dann. Mach’s gut.
Tristan sagt: Ich wünschte, du könntest das lassen.
Und?, fragt David. Was gab’s?
Nichts. Anne nimmt sich eines der Gläser, hält es David entgegen. David sagt Chin-Chin, aber er hebt sein Glas nicht. Sie trinkt einen Schluck.
Es geht ihm nicht gut, sagt sie. Er darf seine Tochter nur selten sehen, er leidet darunter.
Nicht vorher nachdenken. Gleichzeitiges Sprechen und Denken.
Sie sagt: Er war mit ihr im Zirkus. Sie hat die ganze Zeit geweint. Er ist so hilflos.
David sagt: Aha. Sie kann ihm ansehen, dass er nicht weiß, was er von alldem halten soll. Hat er Angst, sie zu verlieren? Nein, denkt Anne, das nicht. Aber er würde gerne einordnen, was geschieht. Verstehen, was vor sich geht.
Sie sagt, er ist nur ein Freund, und David sagt: Natürlich. Er sieht sie belustigt an. Davon ging ich ganz selbstverständlich aus. Oder sollte ich nicht?
Doch. Sie seufzt kurz. Doch, natürlich. Sie fährt auf. Die Vögel! Ich bringe noch schnell Futter raus.
Als sie im Bett liegen, sagt David: Er ist verheiratet, nicht wahr?
Ja, sagt Anne. Sie legt das Buch beiseite, in dem sie gelesen hat. Schiebt das Kissen in ihrem Rücken höher.
Und er weiß auch, dass du verheiratet bist. Ich meine, er denkt nicht, dass ich dein Bruder bin oder so was?
Natürlich nicht. Sie lacht. Sie nimmt das Kissen aus dem Rücken, legt sich hin, sein Gesicht nah vor ihrem, die braunen Augen, der Bart, gerade lang genug, um sich weich anzufühlen. Sie kann die Schatten unter seinen Augen sehen. Die Falten, mehr als eine Andeutung davon. Manchmal hat sie das Gefühl, als seien sie irgendwann gemeinsam untergetaucht und kämen nun wieder an die Oberfläche. Älter geworden. Aber immer noch vertraut. Es ist, als ob sie ihr Spiegelbild sähe. Keines, das sie abbildet. Sondern eines, das etwas an ihr sichtbar macht, von dem nur sie weiß.
Sie küsst ihn. Nimmt seine Hand. Legt sie auf ihren Bauch. Sie hat keine Angst, alleine zu sein, aber jetzt will sie ihm nah sein. Sie sagen ihre Namen, als müssten sie sich vergewissern. Er legt sich zwischen ihre Beine, seine Hände auf ihren Schultern. Sie bewegen sich lange kaum, dann plötzlich heftiger als sonst. Sehen sich an mit weit geöffneten Augen. Danach sind sie erschöpft wie nach einer Wanderung. Sie löscht das Licht, dreht sich von ihm fort. Er lässt eine Hand auf ihrer Schulter liegen, bis sie sie nimmt und auf ihre Hüfte legt. Dann schläft sie ein.
Noch eine Woche bis Weihnachten. Niemand will jetzt ausziehen. Nicht auf das Jahresende, sagt Julia. Aber dann, im Januar, wart’s ab. Sie hat Anne eine Tasse Kaffee gemacht, bringt sie ihr auf einem kleinen Tablett ins Büro. Das Milchkännchen daneben, die Zuckerdose, die nicht zum Service passt. Sie setzt sich auf den Stuhl gegenüber von Annes Schreibtisch. Wir sollten die Zeit nutzen. Sie sieht sich im Büro um. Zeigt auf die Ordner im Regal. Um aufzuräumen, sagt sie. Auszumisten. Alles, was älter als drei Jahre ist, muss raus.
Wegschmeißen?, fragt Anne, und Julia sagt: Umlagern. In den Keller. Ins Archiv. Sie verdreht die Augen. Wo wir es dann noch ein paar Jahre lassen, um es am Ende doch wegzuschmeißen.
Den ganzen Nachmittag sortiert Anne die alten Ordner aus. Blättert in Verträgen für Häuser, die sie nie gesehen hat. Von Menschen, die sie nicht kennt. Manchmal ist ihr ein Name vertraut, aber sie kann sich an kein einziges Gesicht erinnern.
Als sie am späten Nachmittag das Büro verlässt, steht Tristan auf der anderen Straßenseite. Er geht über die Straße, die Hände in den Taschen seines Mantels. Als er vor ihr steht, kratzt er sich verlegen am Kopf.
Ich könnte sagen, ich wäre gerade in der Nähe gewesen.
Das könntest du.
Würdest du mir denn glauben?
Sie lächelt. Wer weiß, sagt sie.
Lass uns etwas spazieren gehen.
Sie gehen gemeinsam die Straße hinab, vorbei an den Autos, die sich bis an die letzte Kreuzung der Stadt stauen und dann an Geschwindigkeit gewinnen, sich voneinander lösen wie die Perlen einer zerrissenen Kette. Anne hält sich den Schal vor das Gesicht, der Wind ist beißend kalt. Sie sagt, ich möchte umdrehen, und Tristan macht wortlos kehrt. Auf dem Flachdach der Tankstelle sitzen Möwen. Ihr gleitender Flug, wenn sie davonschweben, ihre empörten Schreie. Tristan geht schneller,
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