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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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Käfigs. Das Fell war noch warm. Aber er war schon ganz steif geworden.
    Oje, sagt Anne. Was hast du dann gemacht?
    Na ja, sagt Tristan, zuerst habe ich gar nicht verstanden, dass ich ihn vergiftet hatte. Meine Mutter hat es mir später am Tag erklärt. Da hatten wir den Hasen schon beerdigt – in einem Loch im Garten, das ich mit dem Spaten ausgehoben hatte, bis mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.
    Sie hat dir gesagt, dass du den Hasen getötet hast?
    Nicht wörtlich, sagt Tristan. Sie hat die restlichen Beeren in seinem Käfig gesehen. Da hat sie mich mit sich ins Wohnzimmer genommen und mir ein Buch gezeigt, in dem alle Giftpflanzen zu sehen waren. Sie hat gesagt, es sei ihre Schuld, nicht meine.
    Und du?, fragt Anne. Hast du ihr geglaubt?
    Ja, sagt er. Zumindest habe ich das versucht.
    Eine Frau mit einem großen Hund kommt ihnen entgegen. Der wiegende Gang des Bernhardiners, der schläfrige, gutmütige Blick. Anne lässt die beiden Hunde einander beschnuppern. Die Frau ruft im Weitergehen nach ihrem Hund und der schenkt ihnen einen letzten langen Blick und geht ihr dann langsam hinterher.
    Vor einer hohen Fichte bleibt Tristan stehen. Auf den Stamm ist ein gelbes Kreuz gemalt.
    Was heißt das?, fragt er. Dass der Baum gerettet oder gefällt wird?
    Das habe ich mich auch schon gefragt, sagt Anne. Hoffen wir mal: gerettet.
    Was man alles nicht weiß, sagt er. Er hat sie an sich gezogen, flüstert in ihre Halsbeuge. Über dich würde ich gerne alles wissen.
    Das tust du doch schon. Sie lacht trocken. Ich habe doch mein ganzes Leben vor dir ausgebreitet.
    Man weiß nie genug voneinander, sagt Tristan.
    Oh doch, widerspricht Anne. Man weiß sogar oft zu viel voneinander.
    Zu viel, um den anderen noch zu mögen?
    Zu viel, um ihm seine Freiheit zu lassen.
    Trotzdem, sagt Tristan. Eine Geschichte, bitte. Aus der Zeit, als wir uns noch nicht kannten. Als ich nicht einmal wusste, dass es dich gibt.
    Gut, sagt Anne. Sie weiß plötzlich, was sie ihm erzählen wird. Ich war achtzehn, beginnt sie, das ist das Alter, in dem man zu oft gesagt bekommt, wie hübsch man ist. Ich war in der U-Bahn unterwegs, als plötzlich das Licht ausfiel. Du weißt, wie das ist, wenn so etwas passiert: erst ist es aufregend, dann amüsant, irgendwann breitet sich Panik aus. Dazu die Durchsagen des Fahrers, der von technischen Störungen spricht und irgendwas Beruhigendes sagt. Dass er mit der Zentrale in Verbindung stehe, dass nichts passieren kann, dass der Schaden bald behoben werde. Im vorderen Teil des Wagens konnte ich ein Kind weinen hören und die Stimme der Mutter, sie flüsterte, dann sang sie leise. Mir gegenüber saß ein Mann, ich hatte ihn vorher nicht bemerkt. Seine Knie stießen gegen meine. Er entschuldigte sich. Er hatte eine warme Stimme. Er sagte, er habe einen wichtigen Termin. Was für einen?, fragte ich, und er sagte: Meine Scheidung. Er sagte, sie wird denken, ich mache das absichtlich, und ich sagte: Zum Glück kommt es darauf jetzt nicht mehr an. Wir mussten beide lachen – es ist schwer zu erklären, was daran so komisch war. Er sagte seinen Namen, ich sagte meinen, wir gaben uns die Hand, was gar nicht so einfach war, es war wirklich unglaublich dunkel. Der Stromausfall dauerte mehr als vierzig Minuten, es kam mir viel kürzer vor. Die allgemeine Panik ebbte bald wieder ab. Der Mann und ich sprachen die ganze Zeit miteinander. Über die Liebe und das, was wir von ihr erwarteten. Er fragte, wie alt ich sei, und als ich es sagte, meinte er: Dann ist noch alles möglich, vergessen Sie das nicht. Ich hatte Angst vor dem Moment, in dem das Licht angehen würde. Nicht wegen mir. Wegen ihm.
    Und als es wieder hell wurde?, fragt Tristan. Sie weiß, was er denkt – sie ist sich absolut sicher. Sie fragt: Was glaubst du?
    Ich glaube, sagt Tristan, dass es ein peinlicher Moment war. Ich glaube, dass der Mann alt war oder unattraktiv, dass du schnell ausgestiegen bist und ihm deine Telefonnummer nicht gegeben hast.
    Ja, sagt sie, sollte man meinen.
    Was stimmt: der Mann war deutlich älter als sie, und nein, besonders hübsch war er auch nicht. Er war nicht sehr groß. Hatte kurze, fast graue Haare. Neben dem rechten Auge war ein Feuermal – dunkelrot und lang und schmal wie ein Messer.
    Sie macht eine Pause, dann sagt sie: Er war es, der schnell ausgestiegen ist. Er wollte meine Telefonnummer nicht haben, er wollte mich nicht wiedersehen. Ich habe noch lange an ihn gedacht, immer wenn ich in der U-Bahn saß, habe ich

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