Tontauben
Anne muss fast rennen, um Schritt zu halten. Er reicht ihr die Hand, zieht sie mit sich in einen Hauseingang. Anne sieht zwei Klingelreihen und die Kritzeleien an der Kachelwand. Ein paar Namen, kurze Botschaften. Die Zeichnung einer Kuh, die über einen Zaun springt. Zwei Strichmännchen in eindeutiger Stellung.
Ich habe meiner Frau von uns erzählt, sagt Tristan. Er sieht Anne abwartend an.
Sie fragt: Was denn? Was hast du ihr erzählt?
Sie denkt, dass es fast nichts zu erzählen gibt.
Alles, sagt Tristan.
Und?
Tristan sagt: Sie ist enttäuscht, wütend. Er schweigt einen Moment. Nicht traurig, aber das hatte ich auch nicht erwartet.
Die Tür öffnet sich. Sie machen einem Mann in einem weinroten Anzug Platz, er nickt ihnen grüßend zu.
Anne tritt aus dem Hauseingang heraus, sieht sich nicht nach Tristan um. Eine Frau mit einem Einkaufswagen kommt ihnen entgegen, der Wagen ist voller Tüten. Die Räder des Wagens klirren laut auf dem Beton.
Ich weiß nicht, was du jetzt hören willst, sagt sie, als Tristan wieder neben ihr geht.
Er sagt: Ich verlange nichts von dir. Ich wollte nur mit offenen Karten spielen.
Anne hört die Motorengeräusche eines Flugzeugs. Sie bleibt stehen, legt den Kopf in den Nacken. Die blinkenden Lichter, der Kondensstreifen, der wie eine Radierung im Graublau aussieht.
Komm, sagt sie und sieht Tristan an, das da nehmen wir.
Die Sache ist, dass ich nicht fliegen kann. Tristan räuspert sich. Ich habe es mehrfach versucht. Aber es geht einfach nicht. Ich zittere, mir wird schlecht. Früher habe ich es gekonnt, dann irgendwann nicht mehr.
Hast du etwas Schlimmes erlebt?
Nein. Er schiebt die Unterlippe ein wenig vor, schaut von Anne zum Flugzeug und zurück. Es kam einfach so, sagt er. Wie eine Grippe oder Masern. Sobald es vorbeigeht, fliege ich wieder.
Wohin?, fragt sie.
Irgendwohin. Vielleicht Sidney.
Vor der Agentur trennen sie sich. Ich will dich nicht zum Auto bringen, sagt er, sonst musst du mich wieder reinlassen. Er lacht leise.
Sie fragt: Wollen wir uns am Wochenende sehen?
Er überlegt nicht. Er sagt: Ja.
Als er weggeht, sieht Anne ihm nach. Sie zählt bis fünfzig. Er dreht sich nicht um.
Samstagmorgen. Sie hat David zum Bahnhof gebracht. Es ist ein Ritual: das immergleiche Abteil – Nummer vier –, die gleiche Sitznummer, 22. Auf halber Strecke wird sein Freund Björn zusteigen. Alle drei Jahre um diese Zeit trifft sich Davids Klasse in einem Restaurant nahe der alten Schule. Jedes Jahr fehlt einer mehr. Sobald nur noch von Krankheiten gesprochen wird, sagt David, gehe ich nicht mehr hin.
Sie hat die Hunde in den Garten gelassen. Hat Bälle geworfen, denen nur der Große hinterhergerannt ist, während der Kleine zurück ins Haus wollte.
Als Tristan kommt, führt sie ihn herum. Zeigt ihm ein paar Zimmer, nicht alle.
Wo ist David?, fragt er. Und Yola?
Nicht da, sagt Anne. Sie sieht ihn nicht an. Verreist.
Er steht vor dem Bücherregal, es sieht aus, als suche er etwas.
Hör auf, alles zu prüfen, sagt sie, und er wendet sich ab und setzt sich auf das Sofa.
Sie hat Brot gebacken. Stellt es auf den Tisch. Oliven dazu, Käse, Chorizo, ein Schälchen mit getrockneten Tomaten. Der Tee hat zu lang gezogen, er schmeckt bitter und süß.
Ein spätes Frühstück, sagt sie. Oder ein frühes Mittagessen.
Wir haben den ganzen Tag, sagt er. Stell dir das vor. Was wollen wir machen?
Sie will ins Kino gehen. In eine Nachmittagsvorstellung. Sie möchte wie die Heldin eines Filmes sein. Das sagt sie nicht.
Gut, sagt er, lass uns einen Film ansehen.
Sie halten einander an den Händen, lachen an denselben Stellen. Sehen den anderen an, wenn der gerade nicht schaut. So also siehst du aus. So also. Sie erinnert sich, wie sie schon einmal so saß: ein Junge neben ihr, seine langen blonden Haare. Sie war sechzehn, fast siebzehn. Wie sie die Hände ineinander verschränkten, dem Film nicht folgen konnten. Ich fühle mich, hatte er ihr einige Wochen später in einem Brief geschrieben, sexuell überfordert von dir. Sie weiß noch, dass sie lachen musste. Sie war erst versöhnt, als er ihr seinen Freund vorstellte, einen schmächtigen Jungen mit Brille, der seine Hand nicht losließ, sogar dann nicht, als er ihr die andere zur Begrüßung reichte. Es war ein Rätsel ihrer Jugend: drei ihrer Liebhaber wurden homosexuell. Sie macht sich lustig darüber. Es lag wohl an mir, sagt sie.
Nach dem Kino gehen sie etwas essen. Ihre Knie stoßen unter dem Tisch aneinander, sie bewegen
Weitere Kostenlose Bücher