Tontauben
lächelt. Sie schiebt ihren Arm unter den von Anne, so dass sie im Gleichschritt gehen. Wie zwei, die sich verbündet haben.
Beim Einkaufen lässt Anne ihre Liste in der Tasche. Geht durch die Gänge. Betrachtet die Regale, die überladen sind mit Waren, schwer von Dosen und Flaschen und Schachteln. Das hat etwas Tröstliches, all diese Dinge, all das Grelle und Bunte. Dass sie davon nehmen kann, was immer sie will. Es gibt Tage, da fallen ihr diese Kleinigkeiten auf. Die sie dann nicht als Kleinigkeiten empfindet. Sondern als etwas, für das sie dankbar sein muss. Auch die Kassiererin ist freundlich, eine rothaarige Frau, nicht viel älter als sie selbst, mit langen Fingernägeln, die klackern wie Casinochips, wenn sie an die Glasfläche des Scanners stoßen. Anne bedankt sich, sagt Auf Wiedersehen, zwei Tüten in jeder Hand, sie lächelt, und als sie an dem grünen Spielauto vorbeigeht, das vor dem Supermarkt steht und darauf wartet, dass jemand eine Münze einwirft, damit es sich in Bewegung setzen kann – das sich dann vor und zurück wiegt, wie ein Stier, der mit den Hufen scharrt –, muss sie plötzlich weinen. Sie stellt ihre Tüten ab und lehnt sich gegen den Kotflügel des kleinen Autos. Und nichts ist vorbei. Und immer noch die Schwere auf der Brust, als habe es sich jemand da bequem gemacht, ein Geist, ein Mensch, ja, was eigentlich.
Das Tierheim liegt am Waldrand, an einer Weggabelung. Von hier aus können sie in den Wald gehen, an den Feldern entlang oder in die Stadt hinein. Wie im Märchen, denkt Anne, drei Wege, und nur einer ist der richtige. Sie ist zu früh da. Hinter dem silbernen Zaun kann sie die Hunde sehen.
Als sie durch den Gang zwischen den Zwingern geht, bellen die Hunde. Sie wirken nicht wütend oder feindselig, eher wie eifrige Schüler, die auf sich aufmerksam machen wollen. Ihre Schwänze fuchteln durch die Luft, sie springen am Gitter hoch. Anne kniet sich hin, um einen hellbraunen Hund anzuschauen, der ein kleines Gesicht mit riesigen Augen hat und auf streichholzdünnen Beinen balanciert. Er kommt ans Gitter und sie lässt ihn ihren Zeigefinger beschnuppern. Er ist genau die Art Hund, die im Winter einen Mantel tragen muss oder einen winzigen selbstgestrickten Pullover aus himmelblauer Wolle. Er ist nicht gemacht für einen Zwinger, denkt sie. Er zittert vor Kälte oder Aufregung. Sie tippt ihn an die Nase und er zieht erschrocken den Kopf ein. Dann geht sie durch den Gang zurück, wieder das Bellen und Winseln.
Der kleine Braune, sagt sie zu dem Mädchen, das hier arbeitet. Belle Epoque steht in Schnörkelbuchstaben auf ihrem Sweatshirt, darunter die Silhouette einer Stadt. Das Mädchen nickt. Ist der zu haben? Ja, sagt das Mädchen, alle sind zu haben, außer der – sie zeigt auf einen weißen Pudel, der auf einem Sessel in der Ecke des Raumes liegt. Der gehört zum Inventar.
Als Tristans Auto vor dem Tierheim hält, geht Anne ihm entgegen. Der kleine Hund läuft eilig hinter ihr her.
Und wer ist das?, fragt Tristan.
Sie sagt: Ich weiß es noch nicht. Er hat einen Namen, aber der gefällt mir nicht.
Sie gehen los, wählen den Weg in den Wald. Sie hält die Leine des Hundes, wartet, wenn er an einem Blatt schnuppern will, hebt ihn über Pfützen und Baumstämme.
Er sieht aus wie ein Reh, sagt sie, und Tristan sagt: Ein winziges Reh. Eines, das den Wald nicht kennt und von allem überrascht ist.
Ich kann ihn zurückgeben, sagt sie, aber ich glaube, ich behalte ihn.
Tristan bückt sich, um den Hund zu streicheln, und der Hund nähert sich langsam seiner Hand und macht dann einen Schritt zurück. Anne nimmt ihn auf den Arm.
Er ist kein Hund für lange Strecken, sagt sie, eher ein Tragehund.
Tristan legt beide Hände um ihr Gesicht, küsst sie auf die Wangen, die Stirn, den Mund. Das sind so Sachen, denkt sie.
Schön, dass du angerufen hast, sagt er.
Sie will etwas sagen, aber er schüttelt den Kopf und sagt: Erklär’s bloß nicht.
Er legt einen Arm um ihre Schulter. Sie gehen den matschigen Weg entlang, Wasser dringt in ihre Schuhe. Auf den dichten Nadeln der Eiben liegt Schnee, dazwischen leuchten die roten Beeren wie Christbaumschmuck.
Als ich ein Kind war, habe ich einmal meinem Hasen Eibenbeeren gefüttert, sagt Tristan. Es war sein Geburtstag, die Beeren mein Geschenk. Ich sah ihm beim Essen zu, wie er die Früchte mit beiden Pfoten festhielt und die langen Schneidezähne hineinstieß. Zwei Stunden später war er tot – ausgestreckt lag er in einer Ecke des
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