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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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zugezogen, so dass das Zimmer in mattes Gelb getaucht schien.
    Ich konnte kaum ein Wort ohne Stottern sagen, darum habe ich immer weniger gesprochen, erklärte er.
    Jedes Wort ein unüberwindbares Hindernis in seinem Kopf. Eine Mauer. Ein Graben. Ein Labyrinth, das er nicht zu betreten wagte. Seine Eltern redeten laut mit ihm, formten die Silben überdeutlich mit den Lippen nach, und bald tat er so, als verstünde er sie nicht, zuckte die Achseln, folgte ihnen zwar aufs Sofa, um Bilderbücher anzuschauen, ignorierte aber standhaft die an seinem Ohr erklingenden Worte für das Dargestellte. Dann brachten sie ihn zu einem Therapeuten. Der hatte seine Praxis in einem Reihenhaus am Stadtrand. Die Zimmer waren mit bunten Tüchern dekoriert, die über Lampen, Stühlen und an den Wänden hingen. Auf einem niedrigen Couchtisch lagen neben Zeitungen und einem überquellenden Aschenbecher drei große Würfel, die statt Zahlen Buchstaben anzeigten. Vier Kinder knieten um den Tisch herum und würfelten, als Frank in das Zimmer kam. Zu jedem Buchstaben, der erschien, mussten sie ein Wort nennen. Der kahlköpfige Mann, der rauchend neben den Kindern saß und ihre stockend vorgebrachten Wörter mit übertriebener Begeisterung kommentierte, winkte Frank zu sich heran und zog ihn, ohne ihn den anderen Kindern vorzustellen, auf den Boden. Bei der nächsten Runde würfelte Frank bereits mit. Nach einigen Runden konnte er ein erstes Wort ohne Stottern aussprechen.
    Was für eines?, fragte Esther, und Frank sagte: Weiß nicht mehr.
    Er ging drei Monate in die Therapie. Er spielte mit den Würfeln. Malte Gegenstände, die er benannte und in Sätze einbaute. Er erzählte von seinen Wochenenderlebnissen und freundete sich mit einem der anderen Kinder an, einem italienischen Jungen, der Claudio hieß und zusätzlich zum Stottern lispelte. Am Ende der Therapie war das Stottern verschwunden und tauchte nur gelegentlich wieder auf, wenn Frank aufgeregt oder in Eile war. Ein Gast, den man nicht fürchtet, aber auch nicht zum Bleiben auffordert, hatte der Therapeut gesagt. Frank rief sich das in Erinnerung, sobald er sich in einem Wort verhakte: Einer, der bald wieder geht.
    Jetzt ein Erlebnis aus deiner Kindheit, sagte er.
    Mit einem Finger beschrieb er Kreise auf Esthers Rücken, dann verharrte er einen kurzen Moment am Ende des Steißbeins und fuhr im Slalom entlang der Wirbelsäule nach oben.
    Später, sagte sie und gähnte.
    Na, komm schon.
    Er biss ihr leicht in den Hals und Esther sagte: Okay, warte, lass mich überlegen.
    Was gab es zu erzählen aus ihrer Kindheit? Von den Jahren, die glücklich waren, bis auf das eine, in dem sich ihre Eltern trennten. Glücklich, dachte sie, oder was man so nennt. Denn natürlich war sie oft verzweifelt gewesen, dazu reichte ein einziges Erlebnis: eine schlechte Note, ein Junge, der sie nicht beachtete, eine Querele unter den Freundinnen. Aber im Nachhinein erschienen ihr diese Jahre glücklich, wenn sie auch manchmal den Eindruck hatte, sie habe sich mit schlafwandlerischer Taubheit durch Kindheit und Jugend bewegt, nahezu unberührt und ohne Spuren davonzutragen.
    Wir spielten mit Freunden immer auf einer brachliegenden Wiese, begann sie.
    Wie alt warst du?, unterbrach sie Frank, und sie sagte: Neun oder zehn, irgendwas um den Dreh.
    Die Wiese war eines der letzten unbebauten Grundstücke zwischen den Häusern gewesen. Inzwischen stand dort ebenfalls ein Haus, eine jener neobarocken Vorstadtvillen, sagte Esther, die aussehen wie aus einem Bausatz für Angeber.
    Auf der Wiese gab es eine Weide, außerdem einen Mirabellen- und einen Pflaumenbaum. Die Früchte betrachteten sie als ihr Eigentum. Sie waren eine feste Clique von sechs Kindern: zwei Schwestern, die ältere groß und dunkel, die jüngere mit milchweißer Haut und rotem Haar, das ihr in einem Seitenscheitel ins Gesicht fiel. Ein älteres Mädchen, das Simon statt Simone genannt werden wollte und sich später, das hatte Esther von ihrer Mutter gehört, tatsächlich als transsexuell herausstellte. Außerdem eineiige Zwillingsbrüder, dünn wie Heuschrecken, aber mit weichen, stupsnasigen Gesichtern. Und sie.
    Ich weiß nicht mehr genau, was der Anlass war, sagte Esther.
    Sie wandte sich zu Frank um. Kannst du mir eine Zigarette anzünden?
    Sie zog zweimal an der Zigarette, dann sagte sie: Irgendwie kam es zu einem Streit zwischen den Schwestern.
    Das war nichts Besonderes: So selten eine der Schwestern ohne die andere anzutreffen war, so selten

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