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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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vertrugen sie sich. Immer wieder gerieten sie in Streit – schrien sich an, zankten und beleidigten einander, bis die kleinere, jähzornigere irgendwann ihren schmächtigen Körper gegen den der größeren rammte. Manchmal gelang es ihr, sie in einem solchen Wutanfall zu Boden zu werfen, sich auf sie zu setzen und ihre Arme mit den Knien zu fixieren.
    So war’s auch diesmal, sagte Esther. Nur, dass sie diesmal ein Messer hatte.
    Wenn sie ihren Arm ausstreckte, konnte sie den Schatten auf der Wand sehen. Wie spät mochte es sein? Sieben, halb acht? Sie würde Jean später anrufen, wenn Frank unter der Dusche stand.
    Woher denn das?, fragte Frank.
    Tja.
    Esther zögerte, von weit her war ein dumpfer Laut zu hören – ein Schuss oder ein Donner –, dann sagte sie: Von mir.
    Autsch, sagte Frank leise an ihrem Ohr.
    Sie hatten das Messer zum Schnitzen dabei, ein kleines Küchenmesser, der Griff aus buntem Plastik, aber mit glatter, scharfer Klinge. Sie hatten Holzstücke aufgelesen und an ihnen herumgeschnitzt. Dann hatten sie Zweige von der Weide abgebrochen und die Rinde weggeschnitten, um Pfeil und Bogen daraus zu machen. Lange Pfeile, so spitz, dass sie im Boden stecken blieben. Elastische, helle Bögen, eine straffe Kordel zwischen beiden Enden.
    Wie Robin Hood, sagte Frank.
    Genau, sagte Esther.
    Mit einer Hand zog sie die Decke hoch und breitete sie über sich und ihn.
    Ich habe nie darüber gesprochen, weißt du.
    Aber das stimmte nicht. Direkt im Anschluss an das Ereignis hatte sie darüber gesprochen. Sie hatte versucht zu erklären, wie es zu dem Streit gekommen war. Sie hatte auch ihre Rolle in dem Streit nicht verschwiegen. Ja, hatte sie gesagt, ich habe ihr das Messer gegeben. Warum? Weil sie es gewollt hat. Aber hast du dir denn nichts dabei gedacht? Nein. Sie musste damals nah am Weinen gewesen sein, nicht aus Reue, eher aus einer diffusen Wut. Nein, hatte sie gesagt, ich habe mir nichts dabei gedacht, nichts Böses zumindest.
    Frank fragte vorsichtig: So schlimm?
    Eigentlich nicht, sagte Esther, es ist ja kaum was passiert. Die Kleine hat ihrer Schwester das Messer an den Hals gehalten, wir haben daneben gestanden. Ich glaube, wir haben sogar gelacht.
    Das hatte sie vergessen, aber jetzt sah sie es deutlich vor sich.
    Ja, wiederholte sie verwundert, wir haben tatsächlich gelacht.
    Und dann?
    Sie konnte spüren, dass er gespannt war, wie die Geschichte ausging. Kurz überlegte sie, ob sie eine andere, dramatischere Version erfinden sollte.
    Sie hat sie verletzt, sagte sie, aber nicht sehr. Am Ende war die Größere doch stärker, sie schob das Messer von ihrem Hals weg, es gab einen Schnitt in der Wange. Als sie schrie, sprang die Kleinere auf, und das war’s dann.
    Von dem, was danach kam, erzählte Esther nichts. Von den Gesprächen, dem Unverständnis ihrer Eltern. Und wenn dir jemand sagt, spring von der Brücke, machst du das dann auch? Sie hatte über die Frage nachgedacht, hatte sie nicht als ironisch erkannt. Kommt drauf an, hatte sie gesagt. Worauf? Wer es sagt.
    Aber hatte es sich tatsächlich so zugetragen? War sie wirklich so leichtgläubig gewesen? Oder hatte sie nicht vielmehr aus Neugierde gehandelt? Hatte das Messer aufgehoben und übergeben, weil sie wissen wollte, was geschehen würde. Hatte die Gefahr erkannt – und sie in Kauf genommen. Und was bedeutete das, wenn es sich so verhielt: dass sie böse war, von Grund auf schlecht?
    Glück gehabt, sagte Frank.
    Ja, sagte Esther, vielleicht.
    Sie sah auf die Uhr.
    Ich habe Hunger. Gehst du zuerst duschen oder ich?
    Ich, sagte Frank und setzte sich auf.
    Bevor sie eine der Nachttischlampen anschaltete und sich das Telefon auf den Schoß zog, schloss sie die Tür zum Badezimmer. Bereits nach dem ersten Klingeln nahm Jean ab.
    Hast du direkt neben dem Telefon gesessen?, fragte sie statt einer Begrüßung, und Jean sagte, nein, das nicht, aber er sei im Moment, in dem es klingelte, am Telefon vorbeigelaufen.
    Wohin?
    Was wohin?
    Wohin bist du gelaufen?
    In den Keller.
    Sie konnte seiner Stimme anhören, dass er belustigt war. Sie hätte ihn gerne gefragt: Um was zu tun?, wagte es aber nicht.
    Wein holen, sagte Jean, als habe er ihre Gedanken erraten, und Esther sagte leichthin: Ach, du hast Besuch?
    Nein. Aber Durst.
    Er lachte leise.
    Lass uns noch mal neu anfangen.
    Er räusperte sich und sagte, bon soir, und sie wiederholte übertrieben artig: Bon soir.
    Während er von den Ereignissen des Tages erzählte, betrachtete sie das

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