Tony Mendez 01 - Schwärzer als der Tod
hatten so viele Splitter wie möglich entfernt, aber das größte Fragment der Kugel vom Kaliber.22 befand sich an einer Stelle, an die sich keiner der Chirurgen heranwagte. Die Gefahr eines irreparablen Hirnschadens war einfach zu groß. Sie konnten ihm allerdings auch nicht sagen, was passieren würde, wenn die Kugel in seinem Kopf blieb.
Dafür konnten sie nämlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, und das wussten sie.
Aus diesem Grund war er ein lebendes, atmendes wissenschaftliches Projekt, eine Fallstudie, eine Attraktion im medizinischen Zirkus, ein Artikel im New England Journal of Medicine .
Die Folgen seiner Verletzung machten sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar. An manchen Tagen schien sein Geruchssinn oder sein Gehör geschärft. An anderen Tagen hatte er einen metallischen Geschmack im Mund, den er
nicht loswurde. Beinahe jeden Tag hatte er Kopfschmerzen, die den stärksten Mann umgehauen hätten.
In den ersten Wochen, nachdem er angeschossen worden war, hatte er unter Aphasie gelitten, und es hatte ihm Schwierigkeiten bereitet, die richtigen Wörter in seinem Gehirn zu finden und zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen.
An manchen Tagen stellte er fest, dass er seine Impulse nicht kontrollieren konnte, aber er hätte nicht sagen können, ob das auf die Schädigung der Stirnlappen zurückzuführen war oder auf die Erkenntnis seiner Sterblichkeit. Er war die lebende zweite Chance. Er war nicht mehr bereit, auf bestimmte Dinge zu verzichten oder Gelegenheiten auf ein Morgen zu verschieben, das vielleicht nie kommen würde.
Infolge des Traumas war sein Körper in den ersten Monaten geschwächt, und es fehlte ihm an der Kraft zur Erledigung selbst einfacher Aufgaben. Mittlerweile schaffte er es wieder, einen Tag zu überstehen, aber es fiel ihm immer noch schwer, die nötige Ausdauer aufzubringen.
Als Mendez ihn bei seinem Hotel abgesetzt hatte, war er so erschöpft gewesen, dass er es kaum noch unter die Dusche geschafft hatte, um den Geruch des Leichenschauhauses abzuwaschen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er sich nackt aufs Bett hatte fallen lassen. Er konnte sich nicht an irgendwelche Träume erinnern. Er hatte sieben Stunden lang tief und fest geschlafen. Das war das erste Mal seit Monaten.
Immer noch den Geruch des Leichenschauhauses in der Nase, duschte er ein zweites Mal und kochte sich mit der kleinen Kaffeemaschine, die auf der Ablage im Bad stand, eine Tasse Kaffee. In dem von Dampfschwaden erfüllten Bad atmete er tief den Geruch von Kaffee und Seife ein, dann wischte er eine Ecke des Spiegels frei, um seine tägliche Bestandsaufnahme vorzunehmen.
Er hatte schon schlechter ausgesehen. Er hatte schon besser ausgesehen. Als Frau hätte er wenigstens mit ein bisschen Make-up nachhelfen können.
»Du wärst eine potthässliche Frau, Vince«, sagte er und musste lachen.
Er nahm sich vor, über den Besuch eines Sonnenstudios nachzudenken, um wenigstens ein bisschen Farbe ins Gesicht zu kriegen. Immerhin war er hier in Kalifornien. Kalifornier legten großen Wert auf ihren gebräunten Teint. Er würde sich dabei zwar ganz sicher wie ein Idiot vorkommen, aber wenn es die Leute davon abhielt, ihn ständig mit einem Fuß im Grab zu sehen, dann war das die Sache vermutlich wert.
Der Zimmerservice brachte einen Korb mit Muffins und Toast. Er aß so viel, wie er hinunterbrachte, damit er vor der ersten Runde Tabletten etwas im Magen hatte. Die braunen Fläschchen mit den verschreibungspflichtigen Medikamenten waren nebeneinander auf der Kommode aufgereiht. Tabletten gegen Schmerzen, gegen Krämpfe, gegen Übelkeit, Neuroleptika gegen gelegentliche psychotische Schübe, ausgelöst durch den Druck auf irgendeinen wichtigen Teil seines Gehirns, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte.
Bis jetzt war er ohne Neuroleptika ausgekommen. Er hatte es geschafft, die Angst aus eigener Kraft in Schach zu halten. Er betrachtete das Fläschchen und fragte sich, ob er noch ausreichend bei Sinnen sein würde, um sie zu nehmen, wenn er sie wirklich brauchte.
Während er ein paar Bissen aß, spielte er das Gespräch ab, das er am Abend zuvor im Auto auf Band aufgenommen hatte. Mendez hatte ihm eine Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse geliefert. Drei Tote und eine Vermisste. Während des Zuhörens machte er sich Notizen, über denen er brütete, nachdem sich das Band ausgeschaltet hatte. Er
betrachtete die Polaroidfotos, die er während der Autopsie aufgenommen hatte,
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