Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
wahrscheinlich den Befehl, auf die dumme Engländerin zu warten und sie zu verhaften, wenn sie mit zehn Tüten vom Einkaufen wiederkommt.«
»Aber vielleicht haben sie gehört, was in der Schule los war«, vermutete Ning.
»Vielleicht, vielleicht ist vieles«, sagte Ingrid ungeduldig und griff nach der Tür. »Bleib dicht bei mir! Los!«
Als Ingrid über den glatten Marmorfußboden zur geschwungenen Treppe schlich, sah Ning die beiden Polizisten auf den Barhockern kaum zehn Meter entfernt. Der eine war fast noch ein Junge, der andere war dicker und hatte schon graues Haar. Beide trugen Pistolenhalfter, konzentrierten sich aber nur auf die Karten in ihrer Hand.
Die beiden Putzfrauen hielten das Haus normalerweise perfekt in Ordnung, aber die Polizisten hatten alles durchsucht und auf den Kopf gestellt. Auf dem Küchenfußboden lagen Besteck und Lebensmittel verstreut und in der Luft schwebten noch Federn von den aufgeschlitzten Sofakissen.
Der Teppich war von der Treppe gerissen worden, und Ning musste aufpassen, um nicht auf die Metallhalterungen zu treten, die aus den Stufen ragten. Ihr Zimmer und das Kinderzimmer lagen zu beiden Seiten des ersten Treppenabsatzes.
»Mach so schnell wie möglich«, mahnte Ingrid.
So wie es unten aussah, hatte Ning zwar schon erwartet, dass ihr Zimmer durcheinander sein würde, aber es ärgerte sie doch, zu sehen, wie man mit ihren Sachen umgegangen war. Ihre Matratze, ihr Bettzeug und die Kissen waren aufgeschlitzt worden, das Bett war an die Wand geklappt, ihr Laptop war fort und der Inhalt aller Schubladen und Schränke lag auf dem Boden verstreut.
Schon beim Eintreten hatte sie eine Wolke von Federn aufgewirbelt, und sie musste sich die Hand vor die Nase halten, um den Niesreiz zu unterdrücken. Die meisten ihrer Taschen befanden sich bei Miss Xu. Die einzige, die sie finden konnte, war eine schmutzige orange Tasche aus den Tagen an der Sportakademie. Sie machte den Reißverschluss auf, steckte eine Handvoll Unterwäsche hinein, Jeans, Tops und ein nagelneues Paar Nike-Turnschuhe.
Als die Tasche zu zwei Dritteln voll war, ging Ning ins Bad, um ein paar Toilettenartikel zu holen, und sah entsetzt, dass Fußboden und Toilettensitz klatschnass waren, weil einer der Polizisten beim Pinkeln nicht einmal den Versuch gemacht hatte, die Schüssel zu treffen. Vorsichtig stieg sie um die Urinpfützen herum und ließ Taschentücher, Zahnbürste, Nagelschere, Kamm und ein paar andere Dinge in ihre Tasche fallen. Dann fiel ihr plötzlich ihre Spezialkiste ein.
Sie fand sie umgekippt zwischen dem Nachttisch und der Wand. Es war eine Schachtel, die eine Vierjährige schön fand, aus leuchtend gelbem Plastik mit abblätternder Goldfarbe und dem Bild eines Dachses mit einer Weste auf dem Deckel.
Es war das Einzige, was Ning länger besaß, als sie sich erinnern konnte. Sie sah nach, ob die Polizisten sie ausgeräumt hatten, aber es war alles noch da: das Bild aus dem Waisenhaus mit ihrer kleinen Freundin, die bei einem Verkehrsunfall gestorben war, die Silbermedaille, die sie bei einem nationalen Boxturnier in Peking gewonnen hatte, eine Kopie ihrer Adoptionsurkunde, angeheftet an ein Foto mit ihren Stiefeltern, das an dem Tag aufgenommen worden war, als sie die Papiere unterschrieben hatten, das Autogramm eines Fernsehstars, in den Ning mit acht verliebt gewesen war, und ein paar andere Dinge, die nur für sie einen Wert besaßen.
Nachdem sie die Schachtel in die Tasche gesteckt hatte, zog Ning den Reißverschluss zu und wollte zur Treppe gehen, als sie plötzlich einen der Polizisten heraufkommen hörte.
»Ingrid?«, rief sie so laut, wie sie es wagte.
Der ältere Polizist fragte leise von unten: »Bist du sicher, dass dieser Fußabdruck vorhin noch nicht da war?«
Ning hatte mit ihren schmutzigen Füßen Spuren auf dem glatten Marmorboden hinterlassen.
»Sie sind auch hier, wo der Teppich hochgenommen wurde«, antwortete der junge Polizist. »Die sind nach der Durchsuchung entstanden. Glauben Sie, dass es Fus Frau ist? Oder seine Stieftochter?«
Ning hörte, wie der andere die Treppe hinaufging.
»Das Mädchen ist erst elf«, sagte er. »Meine Tochter ist dreizehn, aber ihre Füße sind kleiner als die hier.«
Ning überlegte, ob sie ins Kinderzimmer hinüberlaufen sollte. Aber wenn die Polizisten die Treppe schon halb hinaufgegangen waren, würden sie sie sehen und vielleicht auf sie schießen.
»Mrs Fu!«, rief der ältere Polizist. »Wir wissen, dass Sie da oben sind!
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