Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
machst?«, beschwerte sich Xifeng und nahm eine Bürste von dem Metallschrank neben ihrem Bett. »Miss Xu wird dich das büßen lassen.«
»Vergiss Miss Xu«, rief Ning. »Ich brauche meinen Schlaf!«
Xifeng und Daiyu setzten sich auf ihre Bettkanten wie Spiegelbilder, kämmten sich die Haare und zogen sich ihre Schuluniformen an.
»Ich habe gestern Abend die europäischen Hauptstädte und ihre Einwohnerzahlen auswendig gelernt«, sagte Daiyu und zog sich einen dicken weißen Strumpf bis zum Knie hoch. »Kannst du mich abfragen?«
Xifeng war gut in so etwas und freute sich, wenn sie ihre Freundin bei einem Fehler erwischen konnte.
»Frankreich?«, begann sie.
»Paris«, antwortete Daiyu. »Einwohnerzahl zwei Komma zwei Millionen.«
»Oslo?«
»Oslo, Oslo …«, wiederholte Daiyu und trommelte sich mit dem Finger an das Grübchen an ihrem Kinn. »Sag es nicht! Ich weiß es … Oslo: Norwegen, Einwohnerzahl vierhundertsiebzigtausend.«
»Nein, Dummchen!«, freute sich Xifeng. »Sechshunderttausend. Moldawien?«
In China müssen Elfjährige für ihre Schulprüfungen Tausende von Fakten auswendig lernen. Europäische Hauptstädte, chinesische Provinzen, die Geburtstage der Revolutionsführer und chemische Verbindungen. Mit einer guten Note konnte man in eine Eliteschule aufgenommen werden und damit stand einem der Weg zu einer der besten Hochschulen und zu führenden Universitäten offen.
Moldawien kannte Daiyu und lächelte.
»Die Hauptstadt heißt Kischinau, Einwohnerzahl sechshundertfünfzigtausend. Und jetzt eine für dich: Bosnien-Herzegowina?«
Xifeng antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Das ist leicht: Sarajewo, fünfhunderttausend.« Dann lehnte sie sich zurück und pikte Ning in den Rücken. »Ning, Miss Xu reißt dich in Stücke!«
»Der Teufel soll die verlauste alte Kuh holen«, brummte Ning unter Decken und Kissen hervor. »Warum habt ihr solche Angst vor einer kleinen alten Frau?«
Xifeng wurde böse. »Wenn Miss Xu hereinkommt, dann schreit sie uns alle an. Jetzt steh endlich auf!«
Ning rollte sich von der Wand weg und schützte ihre Augen mit der Hand vor dem Licht.
»Noch zwei Minuten!«, stöhnte sie.
»Ich habe keine Lust mehr, wegen dir angemeckert zu werden«, sagte Daiyu und stand entschlossen auf. Sie ging zur Tür, steckte den Kopf auf den Gang hinaus und rief über den Lärm der zwischen dem Bad und ihren Zimmern hin und her eilenden Mädchen hinweg: »Miss Xu! Fu Ning will wieder nicht aufstehen!«
Wie von der Tarantel gebissen fuhr Ning aus ihren Decken hoch. Daiyu hatte eine Grenze überschritten. Sie waren noch nie gut miteinander ausgekommen, aber zu petzen, das war ein neuer Tiefpunkt.
»Was habe ich dir eigentlich getan?«, rief Ning.
Sie war groß für ihr Alter. Sie war nicht übergewichtig, wog aber wahrscheinlich genau so viel wie ihre beiden spindeldürren Zimmergenossinnen zusammen. Daiyu war eingeschüchtert und lief auf den Gang, doch Xifeng stand auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wir haben es satt mit dir«, rief sie. »Immer stellst du deine Kopfhörer zu laut, wenn wir lernen wollen, und bringst uns in Schwierigkeiten, weil du auf dem Zimmer isst und Unordnung machst.«
Ning stand auf und überragte Xifeng um einen ganzen Kopf. Sie hatte zwar ein hübsches Gesicht, wirkte durch ihre breiten Schultern und muskulösen Arme aber ein wenig maskulin, was sie oft verlegen machte.
Xifeng fürchtete, eine Ohrfeige zu bekommen, war aber fest entschlossen, weiterzusprechen.
»Mr Fang sagt, wir hätten gemeinsam die Verantwortung. Eine Klasse kann nicht stärker sein als ihr schwächstes Glied.«
Ning stöhnte genervt.
»Jetzt plappere doch nicht die dummen Schulslogans nach«, verlangte sie. »Du hältst dich für schlau, weil du Listen auswendig lernen kannst, aber hast du schon mal versucht, selbstständig zu denken? Wen interessiert es, dass du dir den Kopf mit Fakten vollstopfst, nur damit du auf eine andere Schule gehen darfst, auf der du noch mehr lernen musst? Klassenstolz, Schulstolz, Landesstolz. Das ist doch alles Mist!«
Xifeng sah so erschrocken drein, als hätte man ihr die Nase abgehackt.
»Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn man sich an Regeln hält. Ohne Regeln herrscht Anarchie.«
Ning lachte, trat ganz dicht an Xifeng heran, stieß die Faust in die Luft und schrie: »Es lebe die Anarchie, Baby!«
Xifeng begann zu zittern.
»Ich glaube, du bist geisteskrank. Du bringst Schande über unsere Klasse und über unsere
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