Topas
Uhr dreißig nachts ins Schlafzimmer. Der
Präsident genehmigte eine Presseverlautbarung, mit der die
Absage einer Rede außerhalb Washingtons begründet
wurde:
DER PRÄSIDENT HAT
EINE LEICHTE ERKÄLTUNG UND ERHÖHTE TEMPERATUR. MIT
RÜCKSICHT AUF DAS STÜRMISCHE WETTER BESTEHT DER ARZT DES
WEISSEN HAUSES DARAUF, DASS DER PRÄSIDENT IN WASHINGTON BLEIBT
UND SEINE REDE IN CLEVELAND ABSAGT.
Wassilij Leonow war
überrascht, als er in den Spätausgaben der
Sonntagszeitungen las, daß der Präsident mit seiner
Familie der Messe beigewohnt habe, nachdem erst wenige Stunden
zuvor eine Wahlrede abgesagt worden war. Nun ja, dachte er, der
Präsident ist schließlich ein frommer Mann, und die
Amerikaner freuen sich, wenn sie wissen, daß er in die Kirche
geht. Zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein. Irgendwie
mußte der arme Junge ja seinen Mut unter Beweis
stellen.
81
Oktober
1962
Mit heulenden Motoren
kam die Düsenmaschine zum Stillstand, und während noch
die Gangway herangeschoben wurde, rasten schon zwei Autos über
das Hallenvorfeld. Das eine war der Cadillac des amerikanischen
Botschafters Wilbur Davis, das andere ein Citroen der
französischen Regierung.
Die Flugzeugtür
ging auf. Andre winkte lächelnd Jacques Granville zu, der
unten an der Treppe stand. Jacques war immer noch hübsch und
sah verteufelt charmant aus; die grauen Schläfen lieferten ihm
das Tüpfelchen zum i.
Grüße
wurden ausgetauscht, es bildeten sich Gruppen, ein Zollbeamter
prüfte ihr Gepäck, ein andere Beamter ihre
Pässe.
»Präsident
La Croix erwartet Sie in zwei Stunden«, sagte Jacques zu
McKittrick.
»Gut. In der
Zwischenzeit unterrichte ich den Botschafter.«
»Dann treffen
wir uns um zehn im Elysee-Palast.«
Die Wagen brausten
nach Paris hinein.
»Was für
eine frohe Botschaft bringst du uns?« fragte Jacques
unterwegs.
»Die Amerikaner
haben unwiderlegliche Beweise, daß die Sowjets auf Kuba
Angriffsraketen in Stellung bringen. Sie werden eine Blockade
ankündigen.«
»Großer
Gott! Verlangen sie NATO-Unterstützung?«
»Nein, noch
nicht.«
»La Croix hat
eine krankhafte Furcht davor, in eine Geschichte hineingezogen zu
werden, die uns gar nicht betrifft.«
»Diesen
Standpunkt könnten die Amerikaner im Hinblick auf die beiden
letzten Weltkriege auch vertreten … oder bezüglich der
Suezkrise.«
»Andre, als
meinen ältesten und besten Freund flehe ich dich an,
äußere vor La Croix keine abweichende Meinung. Er ist
schlimmer denn je.«
»Ich
äußere nie eine proamerikanische Ansicht…
außer wenn es im Interesse Frankreichs ist.«
Ein neues, strahlendes
Paris tauchte vor ihnen auf. Andre fand, Paris werde bald aussehen
wie Algier oder Casablanca. Präsident La Croix war von dem
leidenschaftlichen Drang besessen, die Häuser und historischen
Bauwerke von jahrhundertealtem Schmutz und Ruß säubern
zu lassen. Die Pariser Bevölkerung teilte zwar sein Verlangen
nach Sauberkeit nicht, bequemte sich aber angesichts der
angedrohten Strafen dennoch zu den geforderten
Reinigungsprozeduren.
Sie überquerten
die Seine zum linken Ufer und fuhren zu Andres Wohnung in der Rue
de Rennes 176, wo der altmodische Fahrstuhl so gemächlich
emporschaukelte, daß einem schlecht werden konnte.
Der Fahrer brachte
Andres Gepäck herauf und bekam dann den Auftrag, unten zu
warten.
Unübersehbar
leuchtete ein Briefumschlag.
Papa!
Jacques Granville
hat mir gesagt, daß Du kommst. Er meint, in den ersten Tagen
hättest Du bestimmt keine Zeit für mich. Augenblicklich
sind Semesterferien, darum bleibe ich bei Mama in Montrichard. Ruf
mich an, sobald Du Zeit hast, dann komme ich; sofort nach Paris.
Anfang nächster Woche kommt Francois zurück. Ich brenne
darauf, daß Du ihn kennenlernst, Papa. Ich bin so froh,
daß Du da bist. Wir haben so viel zu besprechen. Ich liebe,
liebe, liebe Dich
Michele
»Kennst du
diesen jungen Mann?«
»Francois
Picard? Ja. Michele hat ihn mal zu mir geschleppt, damit der alte
Onkel Jacques seinen Segen gibt.«
»Und hat er ihn
gegeben?«
»Mit
Vergnügen. Picard arbeitet für das Staatsfernsehen, und
ich glaube, er schreibt irgendeine Spalte in einer der
Wochenzeitungen, aber … nun ja, keine nennenswerte Familie,
kein
Geld.«
»Jeder ist mir
lieber als Tucker Brown.«
»Als
wer?«
»Micheles
Verflossener, ein Idiot.«
Andre hob seinen
Koffer aufs Bett und machte ihn auf. Er war plötzlich
todmüde und empfand eine innere Leere. »Was ist los mit
dir,
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