Topchter der Köingin Tess 1
vorüberging. Ein ungutes Gefühl überkam mich – ich erkannte diese Ecke. Hier hatte ich Kavenlows Nachricht verbrannt. Verwirrt drehte ich mich nach der Mauer um, die sich scharf vor dem helleren Himmel abzeichnete. Ihre obere Linie war ungebrochen, kalt und leer.
Mein Baum war weg.
Starr vor Entsetzen blieb ich stehen. Sie haben ihn gefällt. Sie haben meinen Baum gefällt! Unvernünftiger Zorn wallte in mir auf. Wie konnte Jeck es wagen, meinen Baum zu fällen! Das war mein sicherer Baum gewesen, das Herz all meiner Spiele mit Kavenlow. Es war, als hätte er ein geliebtes Haustier getötet. Und wie sollte ich nun hineinkommen?
Frustriert und wütend ließ ich mich gegen die Mauer sinken und rutschte daran herab, bis ich auf dem spärlichen Gras saß, das sich in den Winkel klammerte, wo die Mauer auf das Straßenpflaster traf. Das war wirklich ungerecht. Ich musste da hinein, Duncan und Thadd befreien und die Prinzessin retten. Jeck hatte alles verdorben!
Ich schlang die Arme um die Knie und kämpfte gegen die widerstreitenden Impulse, in Tränen auszubrechen und mit den Fäusten gegen die Mauer zu schlagen. Wenn ich nicht hineinkam, würden Duncan und Thadd sterben. Warum hatte er nur nicht auf mich gehört?
Ein Grüppchen schwatzender Menschen ging an mir vorbei, gesichtslos im Halbdunkel. Sie ignorierten mich wie eine Bettlerin, und wenn ich nicht bald über diese Wand kam, würde ich genau das sein. Aber wie? Die Mauer war so gebaut, dass sie sogar einer kurzen Belagerung standhalten konnte. Selbst hundert Männer hätten sie nicht überwinden können.
Hoffnungslosigkeit machte mir das Herz schwer, schwerer noch als in jener Nacht, als ich meinen Hund Banner im Stich gelassen hatte, während er für seinen treuen Gehorsam getreten und geschlagen worden war. Mein Baum war weg, vermutlich war nicht mehr als ein Stumpf davon geblieben. Ich konnte mein Seil nicht um einen Stumpf binden.
Mein Kopf fuhr hoch. »Aber Banner könnte es«, flüsterte ich. Hundert Männer konnten die Mauer nicht erstürmen, aber eine einzelne Frau vielleicht schon – wenn niemand sie sah. Mein Blick huschte die leere Straße entlang. Mit hämmerndem Herzen zog ich einen meiner kostbaren Pfeile aus dem Haarknoten und stach ihn mir in den Oberschenkel. Ich verzog das Gesicht – wie ich diesen scharfen Schmerz hasste. Ein Pfeil würde meine Widerstandskraft nicht allzu sehr herabsetzen, und ich brauchte jede Unterstützung, um unbemerkt zu bleiben und Banner dazu zu bringen, das Unmögliche für mich zu tun.
Ich zog mir die Mütze wieder auf und blickte die Straße auf und ab. Es war still, so weit entfernt vom Palasttor. Ich zog das Seil aus meiner Tasche und rollte es lockerer auf. Die Knoten, die im Abstand von je einer Armeslänge hineingeknüpft waren, stießen gegen meine Finger.
»Banner«, flüsterte ich und blieb mit geschlossenen Augen stehen. Jetzt, da ich wusste, was das Gift bewirkte, konnte ich es spüren und den kribbelnden Strom von der Stelle aus verfolgen, wo ich mich gestochen hatte. Ich folgte der Empfindung, die durch meine Adern rann und sich hinter meinen Augen zu sammeln schien. Es fühlte sich an, als würde meine Nase brennen, und ich drängte die Empfindung dazu, sich weiter auszubreiten. »Banner?«, flüsterte ich wieder und dachte an Stöckchen und Knochen und fröhliche Spiele. »Banner, ich bin wieder da. Komm und spiel mit mir.« Was, wenn sie ihn getötet haben?
Ein gedämpftes Winseln und ein kurzes Bellen hinter der Wand ließen mein Herz rasen. Er lebte, und er war frei – und er stand drüben am Fuß der Mauer. Es funktionierte. Es klappte tatsächlich!
Ich rief mir in Erinnerung, wie es sich angefühlt hatte, in die Gedanken der Maus versetzt zu sein, und versuchte, in Banners Geist zu schlüpfen. Die Eindrücke der Nacht schwächten sich ab und wurden wieder stärker, als ich ihn fand. Er trat unruhig auf dem feuchten Boden von einer Pfote auf die andere. Wie eine anschwellende Flut strömten seine Gefühle zu mir herüber und vermengten sich mit meinen zu einer unangenehmen Brühe. Ich bemühte mich, seine Eindrücke in einen Zusammenhang zu bringen, mit dem ich etwas anfangen konnte.
Er war ein wesentlich komplexeres Wesen als die Maus. Seine Weltsicht verstehen zu wollen, war ein wenig so, als versuchte man, kurz vor dem Einschlafen ein Gedicht zu verfassen. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren und wurde ständig von dem seltsamen Prozess selbst abgelenkt. Jedes Mal, wenn
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