Tor der Daemmerung
dadurch die Chance erhalten, in dem von dir gewählten Leben zurechtzukommen.«
Finster starrte ich ihn an. »Hier bleiben? Bei dir? Warum? Was interessiert es dich?«
Der Fremde kniff die Augen zusammen. »Einen neuen Vampir in diese Welt zu bringen ist nichts, was ich auf die leichte Schulter nehme«, erwiderte er. »Es wäre unverantwortlich und gefährlich, einen Menschen zu verwandeln und ihn dann sich selbst zu überlassen, ohne ihm die Fähigkeiten zu vermitteln, die er zum Überleben braucht. Wenn du hier bleibst, werde ich dir alles beibringen, was du wissen musst, um als einer der Unseren zu leben. Oder …«, er wandte sich demonstrativ der Tür zu, »du kannst gehen und versuchen, alleine zu überleben, doch dann wasche ich meine Hände rein von dir und allem Blutvergießen, das daraus resultieren wird.«
Erschöpft lehnte ich mich an die Wand. Meine Gedanken drehten sich rastlos im Kreis. Rat war tot. Lucas war tot. Ich hatte gesehen, wie die Verseuchten sie in den Ruinen geschnappt hatten, sie waren vor meinen Augen zerfetzt worden. Mir stieg ein dicker Kloß in die Kehle. Auch wenn ich es ungern zugab, so war Stick wahrscheinlich ebenfalls tot; niemals hatte er es alleine zurück in die Stadt geschafft. Jetzt gab es nur noch mich. Mich allein. Und einen Vampir.
Meine Brust fühlte sich an wie eingeschnürt und ich biss mir krampfhaft auf die Lippe, als die Gesichter meiner Freunde vor meinem geistigen Auge erschienen. Blass und vorwurfsvoll starrten sie mich an. Obwohl meine Augen brannten, schluckte ich die Tränen herunter. Später war noch genug Zeit, um zu weinen, zu schreien und die Verseuchten, die Vampire und die ganze Welt zu verfluchen. Aber nicht vor diesem Fremden, vor diesem Blutsauger, der mich zwar gerettet haben mochte, über den ich aber nicht das Geringste wusste. Sobald ich allein war, würde ich um Rat, Lucas und Stick weinen, würde die Familie betrauern, die ich verloren hatte. Vorerst hatte ich ganz andere Probleme, um die ich mich kümmern musste.
Ich war ein Vampir. Und trotz allem wollte ich leben.
Der Fremde wartete noch immer, reglos wie eine Wand. Blutsauger hin oder her, er war das einzig Vertraute, was mir geblieben war. »Also«, begann ich leise, ohne aufzublicken. Der altbekannte Hass stieg in mir hoch, doch ich drängte ihn zurück. »Soll ich dich ›Meister‹ nennen, oder ›Lehrer‹, oder wie?«
Der Vampir zögerte kurz, dann antwortete er: »Du kannst mich Kanin nennen.«
»Kanin? Ist das dein Name?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Er wandte sich ab, als wollte er gehen, aber er durchquerte lediglich den Raum und setzte sich auf einen verrosteten Klappstuhl. »Ich sagte, dass du mich so nennen kannst.«
Großartig, mein neuer Lehrer war nicht nur ein Vampir, sondern auch noch einer von der mysteriös-kryptischen Sorte. Ich verschränkte abwehrend die Arme und musterte ihn wachsam. »Wo sind wir hier?«
Kanin überlegte kurz. »Bevor ich etwas über mich preisgebe, wüsste ich gerne etwas mehr über dich«, verkündete er, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Immerhin werde ich dich unterweisen, was zur Folge hat, dass wir viel Zeit miteinander verbringen werden. Da wüsste ich schon gerne, womit ich es zu tun bekomme. Wärst du dazu bereit?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was willst du wissen?«
»Zuallererst deinen Namen.«
»Allie«, sagte ich knapp, präzisierte dann aber: »Allison Sekemoto.«
»Interessant.« Kanin richtete sich auf und warf mir einen durchdringenden Blick zu. »Du kennst deinen vollen Namen, das ist nicht mehr bei vielen Menschen der Fall.«
»Meine Mom hat ihn mir beigebracht.«
»Deine Mutter?« Nun lehnte sich Kanin zurück und verschränkte ebenfalls die Arme. »Hat sie dir noch andere Dinge beigebracht?«
Das ging mir gegen den Strich. Plötzlich sträubte sich alles in mir dagegen, mit diesem Blutsauger über meine Mutter zu reden. »Ja«, antwortete ich ausweichend.
Seine Finger trommelten auf seinen Oberarm. »Zum Beispiel?«
»Warum willst du das wissen?«
Er ignorierte meinen Protest. »Wenn ich dir helfen soll, erwarte ich eine Antwort.«
»Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen«, fauchte ich. »Sonst noch Fragen?«
»Wo ist deine Mutter jetzt?«
»Tot.«
Das schien Kanin nicht zu überraschen, und auch meine Unverblümtheit schockierte ihn nicht. »Und dein Vater?«
»Den habe ich nie gekannt.«
»Geschwister?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann gibt es auf dieser Seite also
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