Tor der Daemmerung
ihnen zu tun hatte: ihre Stadt, ihre Lakaien, ihre Herrschaft über die menschliche Rasse. Aus tiefstem Herzen hasste ich sie. Sie hatten mir alles genommen, alles, was von Bedeutung war. Niemals würde ich ihnen diesen Verlust verzeihen.
Dabei war ich so kurz davor gewesen, etwas zu verändern. In dieser blöden, verdorbenen Welt vielleicht etwas zu bewirken. Wie gerne hätte ich gewusst, wie es war, nicht unter der Herrschaft der Vampire zu leben, nicht die ganze Zeit zu hungern, nicht jeden anderen wegzustoßen, weil man befürchten musste, ihm beim Sterben zuzusehen. Früher hatte es eine solche Welt gegeben. Wenn ich das den anderen nur begreiflich machen könnte … aber diese Möglichkeit hatte ich nun nicht mehr. Meine Welt würde dieselbe bleiben: düster, blutrünstig und ohne Hoffnung. Die Vampire würden weiterhin herrschen, und ich konnte nichts dagegen tun.
Aber wenn ich mich anders entschied … dann würde ich tatsächlich und endgültig sterben.
»Die Zeit wird knapp, Menschlein.«
Wie gerne hätte ich gesagt, dass ich lieber starb, als zum Blutsauger zu werden. Hätte ich noch den Mut und die Kraft gehabt, zu meinen Überzeugungen zu stehen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Konfrontiert mit dem Tod und der großen Ungewissheit danach krallte sich mein Überlebensinstinkt an jede Rettungsleine, die er finden konnte. Ich wollte nicht sterben. Selbst wenn ich so zu etwas werden würde, dass ich verabscheute – an erster Stelle stand immer mein Überlebenswille.
Der fremde Vampir kniete noch immer neben mir und wartete auf meine Antwort. Ich blickte in seine schwarzen Augen und traf meine Wahl.
»Ich will … leben.«
Der Fremde nickte. Er hakte nicht nach, ob ich mir sicher sei, sondern beugte sich nur näher zu mir und schob die Hände unter meinen Körper. »Es wird wehtun«, warnte er, während er mich in seine Arme zog.
Obwohl er sehr sanft vorging, keuchte ich erschrocken auf, als der Schmerz durch meinen zerfetzten Körper schoss und er mich an seine Brust hob. Verzweifelt unterdrückte ich einen Schrei. Sein Gesicht war meinem so nah, dass ich die Kälte seiner blassen Haut spüren und die dunklen Ringe unter seinen Augen sehen konnte.
»Ich muss dich warnen«, sagte er leise. »Selbst wenn ich dich jetzt verwandle, besteht das Risiko, dass du als Verseuchte auferstehen könntest. Falls das geschieht, werde ich dich auf der Stelle vernichten. Aber ich werde dich nicht allein lassen«, versprach er noch sanfter. »Ich werde bei dir bleiben, bis die Verwandlung, mit welchem Ergebnis auch immer, vollendet ist.«
Ich konnte nur nicken. Der Vampir öffnete den Mund und seine Fangzähne wuchsen. Sie wurden lang und spitz und sahen ganz anders aus als die der Verseuchten, die uneben und zerklüftet waren, wie zersplittertes Glas. Die Fänge des Vampirs erinnerten an medizinische Instrumente, mit gefährlichem Feinschliff, fast schon elegant. Das überraschte mich. Obwohl ich in direkter Nähe zu den Blutsaugern lebte, hatte ich noch nie die Mordwerkzeuge eines Vampirs gesehen.
Mein Puls raste, und ich sah, wie die Nasenflügel des Vampirs bebten, als könnte er das Blut riechen, das dicht unter der Haut durch meine Adern floss. Seine Augen wurden noch dunkler, da die Pupillen sich ausdehnten, bis sie selbst den weißen Augapfel verschluckten. Bevor ich in Panik geraten und meine Meinung ändern konnte, senkte er mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung den Kopf und seine langen, weißen Reißzähne bohrten sich in meinen Hals.
Keuchend drückte ich den Rücken durch und krallte mich an sein Hemd. Ich konnte mich nicht bewegen, nicht sprechen. Schmerz, Lust und Wärme durchfluteten meinen Körper und strömten durch meine Adern. Irgendjemand hatte mir mal erzählt, dass die Fangzähne eines Vampirs ein Narkotikum abgaben, eine Art Beruhigungsmittel, weshalb die beiden langen Dolche im Hals nicht die überwältigenden Schmerzen auslösten, mit denen zu rechnen gewesen wäre. Natürlich war das reine Spekulation. Vielleicht gab es auch gar keine wissenschaftliche Erklärung dafür. Vielleicht rief der Biss eines Vampirs eben einfach diese Gefühle hervor: Schmerz und Lust zu gleicher Zeit.
Doch ich konnte spüren, wie er trank, wie das Blut mit alarmierender Geschwindigkeit meinen Körper verließ. Ich wurde schläfrig und benommen, während die Welt um mich herum verschwamm. Unvermittelt ließ der Vampir von mir ab, hob eine Hand an den Mund und ritzte sich mit den Fängen das
Weitere Kostenlose Bücher