Tor der Daemmerung
können so ziemlich jede Art von Wunde heilen. Das macht uns zum perfekten Raubtier, aber sei gewarnt: Wir sind deshalb nicht unbesiegbar. Feuer kann uns großen Schaden zufügen, und sehr schwere Verletzungen genauso. Selbst der stärkste Vampir überlebt es nicht, wenn vor seinen Füßen eine Bombe explodiert. Wenn wir hingegen von einer Kugel, einem Messer, einer Keule oder einem Schwert getroffen werden, so ist das zwar schmerzhaft, aber es bringt uns normalerweise nicht um. Allerdings …« Er berührte meine Brust. »Auch ein Holzpflock im Herzen wird uns nicht sofort töten, aber er macht uns bewegungsunfähig und lässt uns gewöhnlich in Tiefenstarre fallen. So bezeichnet man die letzte Notfallmaßnahme unseres Körpers, wenn es ums Überleben geht: Er stellt sämtliche Funktionen ein und zwingt uns in einen komatösen Schlaf. Es kann Jahrzehnte dauern, bis wir in die Welt der Lebenden zurückkehren.« Damit zog er seine Hand zurück. »Um einen Vampir jedoch vollends zu zerstören, gibt es nur zwei sichere Wege: ihn zu enthaupten oder ihn zu Asche zu verbrennen. Hast du das verstanden?«
»Willst du einen Vampir töten, ziele auf den Kopf«, murmelte ich. »Verstanden.« Die Schmerzen waren verschwunden, doch in meinem Bauch meldete sich erneut dieses nagende Gefühl, dabei wollte ich noch viel mehr lernen. »Aber warum blute ich überhaupt?«, wunderte ich mich. »Habe ich denn noch einen Puls? Ich dachte … ich dachte, ich wäre tot.«
»Du bist tot.«
»Dann braucht der Tod in diesem Fall wohl eine Weile, bis er wirksam wird«, stellte ich stirnrunzelnd fest.
Kanins Miene blieb ausdruckslos. »Du denkst noch immer wie ein Mensch«, rügte er mich. »Hör mir zu, Allison, und löse dich von deinen Vorurteilen. Sterbliche sehen Leben und Tod wie Schwarz und Weiß – entweder lebt man oder nicht. Doch dazwischen, zwischen Leben, Tod und Ewigkeit, gibt es eine schmale Grauzone, von der die Menschen nichts wissen. Und genau dort existieren wir: Vampire, Verseuchte und ein paar der älteren, rätselhaften Wesen, die es in dieser Welt noch gibt. Die Menschen können uns nicht verstehen, weil wir nach anderen Regeln leben.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich begriffen habe.«
»Wir haben keinen Herzschlag«, fuhr mein Mentor fort und fuhr sich über die Brust. »Und du fragst dich, wie dann das Blut durch deine Venen gepumpt werden kann, nicht wahr? Das wird es nicht. Du hast kein Blut in dir. Zumindest nicht dein eigenes. Betrachte es als Nahrung – genau so wird es von unserem Körper absorbiert. Blut bildet den Kern unserer Macht. Es lässt uns leben, es sorgt dafür, dass wir heilen. Je länger wir darauf verzichten müssen, umso unähnlicher werden wir den Menschen, bis wir äußerlich zu den kalten, leeren, wandelnden Leichen werden, für die sie uns halten.«
Prüfend musterte ich Kanins Körper, auf der Suche nach Anzeichen dafür, dass er nicht menschlich war. Seine Haut war blass und die Augen lagen tief in den Höhlen, aber er sah nicht aus wie eine Leiche. Man musste schon genau hinsehen, um ihn überhaupt als Vampir zu erkennen.
»Was passiert wenn wir … äh … kein Blut trinken?«, fragte ich mit einem miesen Gefühl in der Magengrube. »Können wir verhungern?«
»Wir sind bereits tot«, erinnerte mich Kanin in diesem frustrierend ausdruckslosen Tonfall. »Also nein. Doch wer längere Zeit ohne menschliches Blut existiert, verliert nach und nach den Verstand. Der Körper schrumpft zusammen wie eine ausgedörrte Pflanze, bis man nur noch eine leere Hülle ist, ähnlich wie bei den Verseuchten. Dann übernimmt der Hunger die Kontrolle und man greift jedes Lebewesen an, das einem begegnet. Und da der Körper dann keine Reserven mehr hat, auf die er zurückgreifen könnte, kann einen jede Verletzung, die nicht tödlich ist, auf unbestimmte Zeit in die Tiefenstarre befördern.«
»Und das alles hättest du mir nicht erklären können, ohne mir den Arm aufzuschlitzen?«
»Doch, natürlich.« Ungerührt zuckte Kanin mit den Schultern. »Aber ich hatte noch eine weitere Lektion im Sinn. Wie fühlst du dich?«
»Ausgehungert.« Der Druck in meinem Magen war inzwischen richtig schmerzhaft, mein gesamter Körper schrie nach Nahrung. Sehnsüchtig dachte ich an den leeren Beutel, der im Nebenraum lag. Vielleicht war ja noch ein letzter Rest übrig, den ich heraussaugen könnte? Angewidert realisierte ich, was in mir vorging.
Kanin nickte wissend. »Das ist der Preis einer
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