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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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in eine lange, dunkle Gasse. Irgendetwas war anders, aber ich wusste nicht genau, was.
    Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: der Gestank. Mein Leben lang waren mir die Ausdünstungen des Saums vertraut gewesen: Müll, Schutt, Schimmel, Verwesung und Verfall. Jetzt nahm ich nichts davon wahr. Vielleicht, weil Geruchssinn und Atmung so eng miteinander verknüpft waren. Meine anderen Sinne arbeiteten dafür auf Hochtouren: Ich konnte das Rascheln einer Maus hören, die einige Meter entfernt in ihr Loch krabbelte. Ich spürte den Wind auf den Armen, kalt und feucht, aber mein Körper reagierte nicht wie erwartet mit einer Gänsehaut. Und selbst, als wir an einem alten Müllcontainer vorbeikamen, das Summen der Fliegen und die Bewegungen der Maden hörten, die sich durch totes, verwesendes Fleisch bohrten – hoffentlich das eines Tieres – konnte ich nichts riechen.
    Als ich das Kanin gegenüber erwähnte, lachte er humorlos.
    »Du kannst sehr wohl riechen, wenn du es willst«, erwiderte er, während er sich an einem Haufen Ziegel vorbei schob, die früher zu einem Dach gehört hatten. »Dazu brauchst du nur ganz bewusst Luft zu holen. Das ist jetzt keine automatische Reaktion mehr für dich, da wir nicht atmen müssen. Daran solltest du denken, wenn du in eine Situation kommst, in der du nicht auffallen willst. Menschen sind normalerweise äußerst schlechte Beobachter, aber selbst sie werden wissen, dass etwas nicht stimmt, wenn du keinerlei Anzeichen von Atmung zeigst.«
    Ich holte tief Luft, und sofort brannte der Gestank des Müllcontainers in meiner Nase. Außerdem trug der Wind noch einen anderen Geruch heran: Blut. Im nächsten Moment entdeckte ich an einer brüchigen Mauer eine Zeichnung – das Bild eines Totenschädels mit roten Schwingen an den Seiten – und wusste, wo wir uns befanden.
    »Das hier ist Gangrevier«, sagte ich entsetzt. »Das ist das Zeichen der Blood Angels.«
    »Stimmt«, erwiderte Kanin gelassen.
    Mein Instinkt befahl mir, zurückzuweichen, in die nächs te Gasse zu flüchten und nach Hause zu rennen. Vampire waren nicht die einzigen Räuber, die hier die Straßen unsicher machten. Und Plünderer waren nicht die Einzigen, die im Saum ihr Gebiet absteckten. Die Unregistrierten waren einfache Diebe, es waren Jugendbanden, die lediglich versuchten, über die Runden zu kommen. Aber abgesehen davon gab es auch noch ganz andere, unheimlichere Gruppen. Zu ihnen gehörten Gangs wie die Reapers, Red Skulls oder die Blood Angels, die gewisse Gebiete des Saums für sich beanspruchten. In ihrer Welt galt nur ein Gesetz, der Gehorsam gegenüber den Meistern, und den Meistern war es egal, wenn ihr Vieh sich gelegentlich gegenseitig dezimierte. Wenn man einer gelangweilten, hungrigen Gang über den Weg lief, konnte man von Glück reden, wenn sie einen einfach nur umbrachten. Ich hatte Geschichten gehört, denen zufolge manche von ihnen die Eindringlinge in Stücke säbelten und aufaßen, nachdem sie ihren Spaß mit ihnen gehabt hatten. Das waren natürlich alles nur Schauermärchen, aber wer konnte schon sagen, ob nicht doch etwas Wahres dran war? Deswegen war es im besten Fall eine schlechte, im schlimmsten eine tödliche Idee, sein angestammtes Gebiet zu verlassen. Ich wusste genau, welche Regionen des Saums Gangrevier waren, und hatte sie immer gemieden wie die Pest.
    Und jetzt spazierten wir mitten hinein.
    Unsicher musterte ich den Vampir an meiner Seite. »Dir ist schon klar, dass sie uns umbringen werden, wenn sie uns hier erwischen.«
    Er nickte. »Das hoffe ich mal.«
    »Und du weißt, dass sie ihre Opfer auffressen , oder?«
    Kanin blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um. »Genau wie ich«, erwiderte er ruhig. »Und du jetzt auch.«
    Plötzlich wurde mir schlecht. Ach ja, richtig .
    Der Blutgeruch verstärkte sich und jetzt konnte ich auch typische Kampfgeräusche hören: Flüche, Geschrei, das Klatschen von Fäusten und Schuhen auf Haut. Wir bogen um eine Ecke und betraten einen Innenhof, der durch einen Drahtzaun, Glashaufen und rostige Autos von der Straße abgeschirmt wurde. Auf den alten Ziegeln und Metallwänden prangten Graffiti, außerdem standen einige brennende Mülltonnen herum, aus denen dicker, ätzender Qualm hervorquoll.
    In der Mitte dieser Arena hatte sich eine Gruppe abgerissener, auffallend ähnlich gekleideter Schlägertypen um eine reglose Gestalt auf dem Boden versammelt. Der Mann hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt und schützte hilflos seinen Kopf,

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